Die Formel der Macht

wollte, musste sie sogar zugeben, dass dies einer der Gründe dafür war, dass sie Olivia so heftig ablehnte. Ihre Stiefmutter hatte es geschafft, Gordons leicht erlahmendes Interesse auf Dauer zu erringen, etwas, das sie selbst und ihre Mutter über Jahre hinweg erfolglos versucht hatten.
    Summer ließ den vergangenen Abend in ihrer Erinnerung Revue passieren, aber ihr Vater und ihre Stiefmutter schienen sich so zugetan gewesen zu sein wie immer. Hatten sie nur Theater gespielt, zumindest Olivia? Oder war womöglich deren Ergebenheit Gordon gegenüber schon immer nichts als Theater gewesen und dieser Mann hier nur der letzte in einer langen Reihe von Liebhabern?
    Summer schüttelte den Kopf. Nein. Sie hatte kein Recht, aus ein paar liebevollen Gesten, die sie möglicherweise falsch einordnete, abzuleiten, dass Oliva Gordon betrog. Ihre Stiefmutter war eine der kontrolliertesten Frauen, denen sie je begegnet war, und es schien schier unglaublich, dass sie für ein bisschen heißen Sex ihre Ehe und ihre gesellschaftliche Position aufs Spiel setzte.
    Fernando da Soundso
– so hieß er. Der Name blitzte ganz kurz auf Summers Gedankenbildschirm auf, aber noch ehe es ihr gelungen war, ihn ganz zu entziffern, war er schon wieder erloschen. Der Mann war Brasilianer, deshalb hieß er nicht
de
, sondern
da
Soundso. Sie zerbrach sich noch eine Weile den Kopf, dann hatte sie es. Fernando Autunes da Pereira – ja, das war es. Endlich erinnerte sie sich daran, wo sie dem Mann schon begegnet war. Es war erst gestern Abend gewesen, auf dem Empfang für den brasilianischen Außenminister. Barry Jensen, der Präsident von General Motors, hatte ihn ihr vorgestellt. Er hatte erwähnt, dass Fernando einer der erfolgreichsten brasilianischen Geschäftsleute war, der Präsident eines riesigen Konzerns, der sich in Familienbesitz befand und … wie war doch gleich der Name?
    Summers Gedächtnis weigerte sich hartnäckig, den Namen des Konzerns preiszugeben, obwohl sie sich erinnerte, dass Fernando ihr ein paar charmante und ganz und gar unglaubwürdige Komplimente gemacht hatte.
    Und dennoch – auch wenn Fernando mit einem Übermaß an lateinamerikanischem Charme gesegnet war und eingehüllt in den blendenden Mantel großen Reichtums daherkam, erschien ein brasilianischer Industrieller als Liebhaber für Olivia, die trotz ihrer Weltgewandtheit zu leichter Ausländerfeindlichkeit neigte, eine merkwürdige Wahl. Wenn Duncan der erste Ryder seit fünf Generationen war, der mit Fernweh geboren wurde, so war Olivia das krasse Gegenteil: Ganz wie ihre Vorfahren war sie fest überzeugt davon, dass Amerika das beste Land der Welt war und Michigan der beste Staat in der Union. Olivia, die Gordon nur selten bei seinen Auslandsbesuchen begleitete, zog es vor, ihre Kontakte mit ausländischen Würdenträgern auf amerikanischen Boden zu beschränken, wo man nicht von ihr erwartete, dass sie die Augäpfel eines Schafs aß oder schmutzig und verschwitzt Kinderkrankenhäusern im Urwald einen Besuch abstattete.
    Doch trotz all der Gründe, die gegen eine außereheliche Beziehung zwischen ihrer Stiefmutter und Fernando Autunes sprachen, beobachtete Summer, dass das Gebaren der beiden immer vertrauter wurde, bis sie schließlich nur noch schlussfolgern konnte, dass die beiden tatsächlich ein Liebespaar waren.
    Olivia, die vermeintlich so perfekte Ehefrau, hatte eine Affäre.
    Nachdem sie zu diesem erstaunlichen Schluss gelangt war, verbrachte Summer eine geschlagene halbe Stunde damit, sich auszumalen, wie sie zu dem Paar schlenderte und ihrer Stiefmutter drohte, Gordon Shepherd reinen Wein einzuschenken. In diesen Fantasien war Olivia erfreulich stumm und Summer äußerst wortgewandt, eine Vertauschung der Rollen, die sie genüsslich auskostete.
    Glücklicherweise kam sie zu Verstand, bevor sie die Torheit begehen konnte, ihre Wunschträume in die Tat umzusetzen. Ihr Vater würde am Boden zerstört sein, wenn er erführe, dass seine Frau ihn betrog, und Summer verspürte – trotz ihrer Horrorbeziehung zu Olivia – keine Sehnsucht danach, ihm seine Illusionen von einem trauten Eheglück zu rauben. Sie verzog das Gesicht und verkroch sich tiefer in ihren Sitz, nunmehr fest entschlossen, eine Begegnung mit Olivia zu vermeiden.
    Als der Zug durch die Außenbezirke von New York fuhr, waren Olivia und Begleiter immer noch so voneinander in Anspruch genommen, dass keiner von ihnen in ihre Richtung schaute. Summer suchte ihre Habe zusammen und ging, dicht