Die Formel der Macht
beschwipst von dem Wein und total berauscht von der Schönheit der tropischen Nacht, auf den Balkon getreten. Summer war von dem märchenhaften Blick über den Strand und den glitzernden Lichtern auf den Hügeln hingerissen gewesen. Das leise Rauschen des Verkehrs unter ihnen hatte geklungen wie das Rauschen der Wellen, die sich an der Copacabana, einem der schönsten Strände der Welt, brachen.
Es war ihr nur normal erschienen, ihr Glücksempfinden über das Wunder des Augenblicks zu teilen. Sie hatte sich zu Joe umgedreht und auf Anhieb gespürt, dass er ganz unnatürlich angespannt war. Großer Gott, hatte sie gedacht. Er will mich küssen! Zu überrascht, um zu reagieren, hatte sie einfach nur dagestanden und ihn angeschaut. Er hatte fragend die Hand nach ihr ausgestreckt und sie in den Arm genommen. Nicht minder zögernd, hatte sie sich an ihn gelehnt, ihren Kopf in den Nacken gelegt und darauf gewartet, dass er sie küsste. Er hatte sich zu ihr heruntergebeugt und langsam, ganz sanft, seinen Mund auf ihren gelegt. Der anschließende Kuss war angenehm gewesen, wenn auch nicht wirklich weltbewegend.
Alles, was danach kam, war ein Desaster gewesen und hatte damit geendet, dass Joe ihr – und sich selbst – eingestanden hatte, dass er schwul war.
Summer stand auf und ging vom Schlafzimmer zurück in die Küche. So denkwürdig die Vorfälle jener Nacht auch gewesen sein mochten, ganz bestimmt würde Joe doch nicht beschlossen haben, sie an etwas zu erinnern, was ihn damals schrecklich mitgenommen haben musste, oder? Und doch musste Joe auch wissen, dass sie nie vergessen würde, wie herrlich die Nacht begonnen hatte – der magische Moment, als sie Hand in Hand auf dem Balkon gestanden und nach unten auf die Copacabana geschaut hatten. Der perfekte Augenblick, der mit einem Debakel geendet hatte.
Sie kehrte zu ihrem Computer zurück und schaute den Cursor böse an, der sie mit gedankenloser Geduld anblinkte in der Erwartung, dass sie einen Text eingab. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, tippte sie
Copacabana
und krümmte sich unter den Bildern, die das getippte Wort in ihrer Erinnerung wachrief, vor Unbehagen zusammen.
Wie durch einen Zauber wurde der Bildschirm dunkel, dann baute sich ein gestochen scharfes leuchtend buntes Foto einer ihr unbekannten Pflanze auf. Die Blüte sah aus wie eine Art Orchidee, mit zarten leicht bläulich getönten weißen Blütenblättern, die an den Spitzen purpurrot gefärbt waren. Die Pflanze trug keinen Namen, und es gab auch nirgends einen Hinweis darauf, warum Joe ihr ein Foto von einer Pflanze geschickt hatte, und noch viel weniger, warum er es für nötig befunden hatte, die CD-ROM zu verschlüsseln.
Summer blätterte um. Wieder baute sich ein Foto auf, das ebenso scharf und unbegreiflich war wie das erste. Es zeigte Stammesangehörige, vermutlich Indianer, vor dem offenen Eingang einer Gemeinschaftshütte im brasilianischen Dschungel. Die Männer, die nichts außer einem Lendenschurz am Leib trugen, standen um ein offenes Feuer herum, über dem ein großer Topf hing. Die Frauen, alle mit prächtigen Muschelketten um den Hals, drängten sich im Innern der Hütte. Die strenge Geschlechtertrennung und die Tatsache, dass die Männer das Kochen übernahmen, deuteten möglicherweise darauf hin, dass es sich um das Abhalten einer Zeremonie und nicht um die Zubereitung einer normalen Mahlzeit handelte. Ein riesiger Kürbis, den einer der Männer hochhielt, schien mit Blüten, deren Ränder purpurrot gefärbt waren, gefüllt, was möglicherweise auf den Grund hindeutete, warum Joe ihr ein Bild einer Pflanze geschickt hatte. Wollte er vielleicht, dass sie deren Namen herausfand?
Summer vergrößerte verschiedene Stellen des Fotos, aber sie fand nichts, was ihre Aufmerksamkeit nennenswert fesselte. Der Stammeshäuptling trug einen prachtvollen Halsschmuck aus Papageienfedern, und in der Vergrößerung konnte sie sehen, dass einer der jüngeren Männer eine Armbanduhr trug. Seit dem Bau des Trans-Amazon-Highways war es nichts Ungewöhnliches mehr, dass im Dschungel althergebrachte Rituale und moderne Technologie nebeneinanderexistierten. Joe hatte ihr erzählt, dass rastlose junge Männer ihre Stammesquartiere oft verließen, um zu den Außenposten der Zivilisation am Amazonas zu reisen. Leider brachten diese Reisenden bei ihrer Rückkehr zu ihrem Heimatstamm oft zusammen mit den Nikes und Armbanduhren auch Zivilisationskrankheiten mit. Joe hatte wiederholt Beweise dafür
Weitere Kostenlose Bücher