Die Formel der Macht
gefunden, dass Stämme durch Infektionskrankheiten wie Masern, Scharlach oder eine der Geschlechtskrankheiten, die in Manaus grassierten, dezimiert worden waren.
Summer kaute auf ihrem Stift herum, während sie darüber nachgrübelte, warum um alles in der Welt Joe sich die Mühe machen sollte, ihr zwei durch ein Passwort verschlüsselte Fotos zu schicken, auf denen etwas so Harmloses wie eine Urwaldorchidee und eine Stammeszeremonie zu sehen war. Wenn es sich dabei um eine unbekannte Pflanze und einen bis vor Kurzem noch unbekannten Stamm handelte, warum sagte er das dann nicht einfach?
Sie klickte weiter. Keine geheimnisvollen Fotos mehr, Gott sei Dank. Diesmal schaute sie auf eine farbige Karte, die sechs verschiedene Farbtöne von Grün über Gelb zu Braun hatte. Zu ihrer Erleichterung brauchte sie nicht zu erraten, was die Karte darstellen sollte, da sie mit
Ein Vierteljahrhundert Zerstörung des Regenwaldes im Amazonasbecken, 1973–1998
überschrieben war, und ein Schlüssel gab präzise Auskunft darüber, welcher Grad an Zerstörung jede Farbe repräsentierte.
Ein Copyright-Symbol am unteren Rand jeder Seite wies darauf hin, dass die Karte von einer Organisation erstellt worden war, die sich “Save The Rain Forest Fund” nannte. Neben dem Copyright stand in winzigen Buchstaben eine Adresse auf der Upper West Side von Manhattan.
Fünfundzwanzig Seiten Karten folgten, eine Karte für jedes Jahr, wobei man genau mitverfolgen konnte, wie sich die gelben Flächen im Lauf der Jahre ausdehnten, während die dunkelgrünen schrumpften. In den späten Achtzigerjahren verwandelten sich die gelben Flächen in manchen Gebieten in braune, was auf total verödetes Land hinwies. Im Rekordjahr 1994/95 verschwanden mehr als elftausend Quadratkilometer Regenwald. Das bedeutete, dass sich eine Fläche ehemals unberührter Wildnis, die größer war als der Bundesstaat New Jersey, in landwirtschaftliches und bergbauliches Brachland verwandelt hatte, wobei ein signifikanter Prozentsatz der Weltwasservorräte verloren ging.
Keine Überraschungen hier, dachte Summer, während sie weiterklickte und wieder zurück. So grauenhaft die Zahlen auch waren, war es wohl kaum eine Neuigkeit, dass weite Flächen des Regenwaldes im Namen des Fortschritts niedergebrannt und zerstört worden waren. Sie ließ müßig ihren Cursor über die Seite wandern und stutzte, als ihr Blick aufs Neue an dem Copyright-Vermerk hängen blieb. Sie hatte noch nie von dieser Gruppe namens Save The Rain Forest Fund gehört, dabei glaubte sie eigentlich, alle namhaften Organisationen zu kennen, die sich für den Schutz des Regenwaldes engagierten. Sie zog ihr Telefonverzeichnis aus seinem Versteck unter einem Stapel von Büchern und Aktenordnern heraus und suchte nach dem Save The Rain Forest Fund. Vergebens. Noch ein kleines Geheimnis, das zu dem größeren, warum Joe ihr diese CD geschickt hatte, hinzukam.
Sie blätterte wieder durch die Karten, wodurch ihre Verwirrung nur noch stieg. Wenn schon nicht erklärlich war, warum Joe ihr Fotos von Pflanzen aus dem Regenwald und Stammeszeremonien schicken sollte, war es noch unerklärlicher, warum er es für notwendig befunden hatte, ihr Karten zu schicken, auf denen die Zerstörung des Regenwaldes dokumentiert wurde. Joe wusste, dass sie über dieses Problem im Allgemeinen gut informiert war, und wenn sie nähere Einzelheiten wissen wollte, hatte sie durch ihre Stelle an der Universität Zugang zu allen Informationen, die diese Karten enthielten, plus Forschungsunterlagen in rauen Mengen sowie Hunderte von Fotos, die amerikanische Satelliten während des letzten Jahrzehnts aufgenommen hatten. Tatsächlich konnte man sich viele dieser Satellitenfotos sogar im Internet herunterladen, und sie hinterließen einen nachhaltigen Eindruck von dem dramatischen Ausmaß der Zerstörung der tropischen Vegetation. Sie erinnerte sich daran, dass verschiedene Organisationen die Satellitenfotos der Regierung vergrößert und als Poster verkauft hatten, um auf diese Weise ihre Kasse ein bisschen aufzubessern. Warum hatte sich Joe bloß die Mühe gemacht, ihr diese CD zu schicken, wo sie doch alle Informationen, die diese enthielt, jederzeit vollkommen mühelos bekommen konnte? Selbst wenn sie davon ausging, dass der Zeitpunkt des Eintreffens der CD-ROM reiner Zufall war und nichts mit Joes Verschwinden zu tun hatte, musste es einen Grund geben, warum er beschlossen hatte, ihr etwas scheinbar Bedeutungsloses zu schicken – und
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