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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Sie hat Dinge in den Gesichtern der Menschen entdeckt, die man sonst nicht zu sehen bekommt, die andere Seite der Medaille, wenn du verstehst, was ich meine. Die Ängste, die Wünsche, die Narben…«
    Crespin wischte sich die Nässe aus dem Augenwinkel. »Vielleicht hat sie die Seele eines Menschen gesehen, wenn sie fotografierte. Wer weiß.«
    Alexa trank aus, obwohl sie den Alkohol langsam spürte.
    »Sie hat mehr gesehen als andere. Und in deinem Gesicht…«
    Er sah sie forschend an, die blaßblauen Augen leicht gerötet unter den weißen Wimpern.
    »Sie hätte gesehen, was noch nicht einmal du weißt. Nicht nur deine Einsamkeit und deine Trauer.«
    Was denn noch? dachte Alexa und wich unwillkürlich zurück. Reicht das nicht?
    »Sie hätte…« Crespin versuchte, sich zu konzentrieren. Dann grinste er verlegen. »Na ja – ich bin wohl nicht Ada.«
    Der Alte füllte die Gläser nach, mit nicht mehr ganz sicherer Hand. Eigentlich hatte sie nicht weitertrinken wollen, aber Alexa fühlte sich plötzlich leicht wie ihr Kopf, der ein paar Zentimeter über seinem angestammten Platz zu schweben schien. Schließlich saßen sie gemeinsam auf der Bank vorm Haus und leerten einen großen Krug mit Wein, den er abgefüllt hatte.
    Ruby schlief. Die Schwalben flogen tief. »Es gibt ein Gewitter«, sagte Lucien Crespin.
    Den Rest des Abends verbrachte Alexa in einem seltsam lichten Dämmerzustand auf der Terrasse. Was hatte Ada Silbermann gewußt – oder gesehen? Was war auf den Fotos, die sie mit der Leica gemacht hatte?
    Das Haus atmete Ruhe. Wenn Ada Silbermanns Geist dort umgegangen war, dann hatte er jetzt seinen Frieden gefunden. Alexa bekreuzigte sich. Dann nickte sie ein.

6
    Frankfurt
    M itten in der Nacht wachte Dorothea v. Plato auf. Ihr Herz raste und vom Magen strahlte ein dumpfes Brennen aus. Sie tastete nach der Brille auf dem Nachttisch, machte das Licht an und setzte sich auf. Zuviel getrunken gestern abend. Zu oft an die Vergangenheit gedacht.
    Das Fenster mit den samtroten Vorhängen war ein dunkler Schemen, der Biedermeierschrank ein schwarzes Loch. Sie setzte die Brille auf. Es war drei Uhr früh. Um sechs mußte sie wieder raus.
    Sie hatte geträumt. Von einer Dorothea ohne das kleine v mit Punkt vor dem Namen. Von Dorothee Köppen, auch Doro oder Dorle genannt, die sich später »Koeppen« schrieb, weil sie glaubte, das sei irgendwie schicker.
    Im Spiegel über dem Schminktisch sah sie jemanden nicken, der exakt so aussah wie damals Dorothee Köppen: ungeschminkt, die Haare wirr, die Augen groß wie Untertassen durch die Brille mit den dicken Gläsern. Eule hatten sie alle in der Schule genannt.
    Dorothea v. Plato seufzte. Sie hatte die Brille gehaßt und sie abgesetzt, so oft sie konnte. Den Führerschein hatte sie damals noch nicht gemacht, warum also sollte sie alles sehen müssen und das auch noch scharf? Es hatte ihr gefallen, halb blind durch die Gegend zu laufen. Die Farben und das Licht und die Konturen waren sanfter, sie konnte sich Straßen und Häuser und Menschen und Bäume schöner, tiefer, geheimnisvoller vorstellen, als sie waren. Insgeheim hatte sie wahrscheinlich geglaubt, niemand werde sie wahrnehmen, wenn sie selbst nichts sähe von ihrer Umgebung. Wie ein Kind, das die Hände vor die Augen hält und glaubt, es sei unsichtbar.
    Am wunderbarsten war die Welt nachts. Sie hatte sich angewöhnt, nicht mehr tagsüber durch die Großstadt zu gehen – tagsüber mußte sie studieren und abends sich etwas dazuverdienen zum Stipendium. Nachts lief sie durch die Straßen und die Parks.
    Vor allem durch die Parks. Dort trugen die Laternen eine zauberische Aureole, das Gras glitzerte, und die Parkbäume wirkten wie freundliche Riesen, die schützend ihre Arme über das Reich unter ihnen breiteten.
    Alles war intensiver nachts. Alle Sinne strengten sich an, ihr einen Eindruck von der Welt zu übermitteln, die sie kaum sah. Die Gerüche. Die Geräusche. Der Hauch, den man spürt, wenn sich in nächster Nähe etwas bewegt.
    Sie hatte nie Angst gehabt. Noch nicht einmal, als ihr einer gefolgt war, so leise, daß sie ihn nicht hörte, bis er hinter ihr war, ihr die Hand auf den Mund legte, sie ins Gebüsch zog und sich auf sie legte. Er atmete schnell. Sein Gesicht war so nah und das Licht so matt, daß sie nicht erkennen konnte, wie er aussah. Nach einer Weile ließ er sie los, murmelte irgend etwas, stand auf und ging davon. Sie schrie nicht. Sie fragte sich seltsamerweise, ob er sie häßlich

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