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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gefunden hatte.
    Dorothea spürte, wie das saure Brennen ihr die Kehle hochstieg, und griff zu den Tabletten auf dem Nachttisch. Was für ein Schaf sie gewesen war.
    Naiv, sagte ihr Alter ego. Verletzlich. Sehnsüchtig. Unsicher. Einsam.
    Dorothea lächelte mit dünnen Lippen. Selbst dran schuld. Dorothea hatte geglaubt, die Welt wäre freundlicher, wenn man sie nicht so genau in Augenschein nähme. Das Gegenteil war richtig: Viele fanden sie arrogant, hielten sie für unhöflich, stoffelig, provinziell, beschränkt, weil sie noch auf das freundlichste Lächeln mit unbewegtem Gesicht reagierte, die Augen weit aufgerissen. Damals war sie einsam gewesen. Heute war sie nur noch allein – was etwas ganz anderes war.
    Allein war sie freiwillig.
    Dorothea versuchte, langsam und ruhig zu atmen, um dem Mittel dabei zu helfen, ihre Magennerven zu beruhigen.
    Eines Tages war sie vor dem Schaufenster eines Optikers stehengeblieben, in dem für Kontaktlinsen geworben wurde. Ein Wunder, daß sie sich getraut hatte, hineinzugehen und danach zu fragen. Schließlich waren die Dinger so teuer gewesen, daß sie an ihr Heiligstes gehen mußte – an ihr Sparbuch.
    Die ersten Tage mit den Linsen waren eine einzige riesengroße Qual. Ihre Augen waren trokken und brannten wie die Hölle, röteten sich, schwollen an. Sie zwang sich, jedesmal ein paar Minuten länger durchzuhalten, bevor sie sich die dünnen Glaslinsen wieder von den Augen schälte. Erst nach vier Wochen traute sie sich das erste Mal damit auf die Straße. Es war Herbst, es war dunkel, die Luft war feucht nach einem sanften Regen. Wind streichelte und kühlte ihre Augen, mit denen sie plötzlich eine andere Welt sah. Und die kam ihr seltsamerweise genauso wunderbar vor wie das nächtliche Zauberreich, diese neue, geordnete Welt mit ihren sauberen Linien und verläßlichen Grenzen. In diesem Moment trat sie aus ihrem Kosmos der Träume und Vermutungen heraus und hinüber in eine geordnete Umgebung, in der sie sich zurechtfand, als ob sie in die Heimat zurückgekehrt wäre. Alles war klar und übersichtlich, klar wie die Gesetzestexte, die sie studierte, und übersichtlich wie die Bilanzen, die sie zu lesen lernte. Das war der Moment, in dem sie sich löste von der Frau, die sie einmal gewesen war. Sie hatte sich geschworen, nie mehr zurückzuschauen. Orpheus verlor Eurydike, als er hinter sich blickte. Lots Weib erstarrte zur Salzsäule. Vorwärts!
    Einmal noch hatte sie Martin gesehen, mit anderen Augen, sozusagen. Dann hatte sie nichts mehr von ihm gehört bis zu dem Tag, an dem sein Foto um die Welt ging. Mit Grauen dachte sie an das Verhör, das sie damals hatte über sich ergehen lassen müssen, bis man ihr endlich glaubte, daß sie so unwissend und naiv war, wie sie aussah.
    Schon ein Jahr später hätte ihr das niemand mehr abgenommen.
    »Und wenn er wirklich zurückkäme – könnten wir nicht…« Die innere Stimme klang zaghaft.
    Ach Dorothee, dachte Dorothea. Du weißt doch, wohin dich deine Gutmütigkeit gebracht hat. Weich sein hilft nicht. Und er hat es noch immer verstanden, bei hingehaltenem Finger die ganze Hand zu nehmen. Erinnerst du dich nicht? Plötzlich standen ihr die Tränen in den Augen. Sie lehnte sich ins Kissen zurück und schloß die Augen. Das mußte Übermüdung sein. Sie hatte zuviel gearbeitet in der letzten Zeit. Das Geschäft lief nicht, wie sie es gewohnt war. Die Konjunkturprognosen waren nicht gut, die Anleger hielten sich zurück, die Nachrichten aus Amerika…
    Sie trocknete sich die Augen mit der Bettdecke. Die innere Stimme schwieg.

7
    K aren hatte unruhig geschlafen. In den Morgenstunden träumte sie von Verfolgungsjagden, Schüssen, Messerstechereien und einem Mann, der sie heldenhaft rettete. Noch vor dem Happy-End wachte sie auf. Schade, dachte sie.
    Sie nahm ein ausgiebiges Bad, das Mobilteil des Telefons stets griffbereit. Sie lackierte sich die Fingernägel und die Fußnägel. Sie musterte kritisch ihre Garderobe. Vielleicht sollte sie sich mal wieder in die Stadt zum Einkaufen wagen. Sie setzte sich an den Schreibtisch und versuchte nachzudenken. Sie goß die Blumen und dachte kurz daran, die Vorhänge abzunehmen und in die Waschmaschine zu tun. Sie erwischte sich dabei, wie sie an den frischlackierten Fingernägeln kaute. Und sie hätte am liebsten Marion angerufen – aber erfahrungsgemäß kamen die wichtigen Anrufe immer dann.
    Endlich rief Wenzel an.
    »Der Computer gibt nichts her, Karen. Nicht mehr, als wir schon

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