Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
machte einige halbherzige Lockerungsübungen. Autofahren war Gift für den Rücken. Das Wort »Sühne« zog durch ihren Kopf. Unsinn, dachte sie und stieg wieder ein.
    Nach einer Stunde erreichte sie die Abzweigung nach Beaulieu. Die schmale Straße führte durch einen lichten Kastanienwald, an Weiden und Weinbergen vorbei, bis man das Dorf sah, das auf dem Berg hockte wie ein Räubernest. Noch unterhalb der Kirche gelangte sie zu einem geräumigen Platz unter schattenspendenden Platanen. Das kleine Hotel namens Auberge du Sud hatte noch ein Zimmer für sie frei.
    Für Dorothea v. Plato wäre die ziemlich bescheidene Absteige nichts gewesen. Dorothee Köppen aber fühlte sich, als ob sie in der Heimat angekommen wäre, und bestellte in einem Anfall von Übermut einen Gin Tonic bei dem Patron, der, wie sie mit wohligem Schauer dachte, ein bißchen an Anthony Perkins in »Psycho« erinnerte. Sie schlürfte das kühle Getränk auf dem Zimmer, auf der Kante eines Bettes hockend, dem man ansah, daß es schon länger diente. Wahrscheinlich würde sie heute abend in die Mitte der durchgelegenen Matratze rutschen. Seltsamerweise dachte sie mit Vorfreude an die behagliche Kuhle – und an das weiße gestärkte Leinentuch, das knisterte, als sie vorhin die Dekke zurückgeschlagen hatte.
    Doch erst war noch einiges zu erledigen. Sie wußte nicht, wo Martin wohnte. Sein Brief nannte nur den Ort, aber keine Straße und keine Hausnummer. Würde sie ihn wiedererkennen? Sie war sich dessen sicher. Aber wo sollte sie ihm begegnen? Beim Bäcker? Im Café? Spielte er noch Billard? Drehte er den Kassettenrecorder im Auto immer noch auf äußerste Kraft?
    Mit einem Mal spürte sie, wie hungrig sie war – ein Hunger, der sich nicht, wie sonst, mit einem brennenden Gefühl im Magen ankündigte. Das Gefühl, essen zu können, wie und wonach sie gerade Lust hatte, kannte sie gar nicht mehr. Sie trank das Glas aus und ging hinunter an die Bar. Die Terrasse des Hotelrestaurants ging auf den Platz mit den Platanen hinaus, ein Garten schloß sich linker Hand an. Über den Platz trabte eine Katze, ein Schwarm Tauben stieg mit aufgeregtem Gurren hoch. Drei Männer saßen auf einer Bank und sahen drei anderen zu, die mit großer Konzentration und ebenso großen Gesten Boule spielten. Dorothee blinzelte durch die Glastür. Vor dem Restaurant saßen Leute, sie glaubte, neben Kaffeetassen und Biergläsern auch Teller zu erkennen.
    »Gibt es eine Kleinigkeit zu essen?«
    Marc Dutoit hieß der Patron, wie man auf einer gerahmten Auszeichnung für Verdienste um die Gastronomie lesen konnte, die, nach dem Datum der Urkunde zu schließen, schon ziemlich verjährt waren. Er war ein schlanker Mann mit dichtem dunklen Haar und war offenbar weit älter, als er auf den ersten Blick wirkte. Er antwortete mit all der Ernsthaftigkeit, die eine solche Frage verdiente: »Croque Monsieur, Quiche Lorraine, Sandwich Jambon, Sandwich Fromage.«
    Dorothea bestellte ein Schinkenbrot und ein Bier und ging hinaus.
    Der hohe blaue Himmel, die Platanen, die ihre Äste über den Platz breiteten, das helle Licht – sie kniff die Augen zusammen und wartete eine Weile, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann suchte sie sich einen Platz am Rande der Terrasse. Das Klacken der Boulekugeln, das Juchzen der Kinder, die im Garten nebenan auf der Schaukel saßen, das leise Gemurmel der anderen Gäste und das unermüdliche Sägen der Zikaden – das alles war der Inbegriff von Frieden. Nur die Stimmen in ihrem Inneren paßten nicht dazu, die Stimmen der beiden Frauen, von denen die eine hart und unbeugsam, die andere zweifelnd und verletzlich klang.
    Hatte sie etwas wiedergutzumachen? Nein, sagte die eine bestimmt. Ja, sagte die andere. Du hast ihn seinen Weg gehen lassen. Du hast ihm sogar geholfen dabei.
    Sie ließ die Bilder zu, die sie jahrelang aus dem Gedächtnis verbannt hatte. Bilder, die um die Welt gegangen waren, damals: der blutüberströmte Körper auf der Bahre, das Lächeln auf dem weißen Gesicht mit den halbgeschlossenen Augen, die zum Siegeszeichen erhobene Hand. Jeder hat ein Recht auf seinen historischen Moment, auf den Augenblick des Ruhms, hatte irgend jemand mal behauptet. Aber zu welchem Preis?
    Dann hörte sie die Musik.

14
    I m Fotoladen in St. Julien war man erleichtert, als Alexa kurz vor Ladenschluß aufkreuzte. Man hatte schon auf sie gewartet und den Umschlag mit dem richtigen Film und den richtigen Abzügen bereits beiseite gelegt – er

Weitere Kostenlose Bücher