Die Fotografin
leid, denn ich ahne, dass ich sie mit meinem nächtlichen Anruf endgültig um ihre Karrierechancen gebracht habe.
17. Dienstag - nachmittags
Wir sprechen nicht mehr über Isabelle Wagners störendes Eindringen in unsere kleine Welt, wie Gregor es formuliert. Ich akzeptiere das, auch weil ich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber habe und deshalb nicht ständig daran erinnert werden will, dass ich feige war. Gregor fährt nachmittags zu einer Sitzung und Frieda, meine Pflegerin macht es sich im Wohnzimmer gemütlich. Sie ist eine leidenschaftliche Talkshow-Konsumentin und lässt auch am Nachmittag keine einzige dieser Shows aus.
Bei zugezogenen Vorhängen liege ich im Bett. Gregor hat gemeint, das grelle Sonnenlicht würde mir schaden und ich muss ihm recht geben. In dem diffusen Dämmerlicht versuche ich, mich ein wenig zu entspannen, versuche alles, was bisher geschehen ist, zu vergessen. Ich leide unter Wahnvorstellungen, das hat auch Dr. Mertens gesagt, der gegen Mittag kurz vorbeigeschaut und mich oberflächlich untersucht hat. Hans, der fast schon zur Familie gehört, zu unserer kleinen Familie, wie Gregor nicht müde wird, zu betonen.
Dr. Mertens hat meine Hand getätschelt und mich nachsichtig betrachtet. In etwa so, wie man ein anstrengendes Kind betrachtet, das partout nicht tun will, was man ihm befiehlt. Aber ab jetzt werde ich alles tun, was Gregor und Dr. Mertens von mir verlangen. Im Augenblick ist das nicht viel. Sie wollen nur, dass ich widerspruchslos die Tabletten schlucke, die auf dem Nachttisch aufgereiht liegen und dass ich die Vorhänge zuziehe, um das Sonnenlicht auszusperren.
Um die Seeluft auszusperren, den Duft nach exotischen Früchten, die dieselgeschwängerte Luft, die von den Tuk-Tuks verpestet wird, die in Chennai die Hafenmole auf und ab brettern. Daran darf ich auf keinen Fall denken. Das sind alles nur krankmachende Fantasien, hat Dr. Mertens gesagt und ich habe nur stumm genickt. Also versuche ich mit aller Gewalt, an etwas anderes zu denken.
„Denken Sie an etwas, das Ihnen Spaß macht, Adriana!“, hat Dr. Mertens gesagt. „Freuen Sie sich auf die Zukunft!“ Aber ich habe keine Zukunft, das spüre ich. Ich habe nichts, worauf ich mich freuen kann und das macht mich unendlich traurig.
Abends drängt sich Isabelle Wagner wieder in mein Bewusstsein. Ich sehe sie ganz deutlich vor unserem Reihenhaus auf der Straße stehen und das Schriftstück von dem Rechtsanwalt zusammenfalten. Sie wurde gedemütigt und um ihre Zukunft gebracht. Besser gesagt, ich habe sie um ihre Zukunft gebracht. Denn ihr Auftritt am Vormittag wird ein Nachspiel haben, so viel habe ich bereits mitbekommen. Zwar erst nach der Wahl, aber trotzdem.
Wir haben beide keine Zukunft mehr, das verbindet mich mit Isabelle Wagner. Trotzdem darf ich nicht feige die Augen verschließen, so wie es heute vormittags gemacht habe. Ich muss mich bei Isabelle Wagner für mein Versagen entschuldigen. Aber aus dem Haus zu verschwinden, ist gar nicht so einfach. Gregor hat zwar am Abend eine Wahlveranstaltung, aber Frieda lässt mich auf gar keinen Fall das Haus verlassen.
Es sei denn, es gelingt mir, sie zu täuschen. Als Frieda bei Einbruch der Dunkelheit in mein Schlafzimmer kommt, um zu kontrollieren, ob ich meine Tabletten auch gehorsam nehme, ist alles wie immer. Ich schlucke das schwere Schlafmittel vor ihren Augen und zufrieden macht sie sich wieder auf den Weg hinunter ins Wohnzimmer, um den Anfang einer Talkshow nicht zu verpassen. Ich warte noch eine Weile, hole dann die Tabletten unter meiner Zunge hervor und verstecke sie unter der Matratze.
Trotz der sommerlichen Hitze schlüpfe ich in meine Lederjacke und schnappe mir meine Kamera, lade sie mit einem Chip, der schon seit Monaten unbenutzt in meinem Nachttisch liegt. Unten läuft der Fernseher in voller Lautstärke und ich bin sicher, dass Frieda überhaupt nicht mitbekommt, dass ich weg bin. Der Sprung aus meinem Schlafzimmerfenster in den rückwärtigen Garten ist keine große Herausforderung, nur beim Aufprall knickt mein linker Fuß um und ein stechender Schmerz durchzuckt mich. Leise humple ich durch den Garten, halte mich ganz am Rand bei den Sträuchern, um nicht vom Schein der Straßenlaterne voll erfasst zu werden. Als ich endlich auf der Straße stehe, atme ich tief durch. Ich bin schweißnass und die dicke Lederjacke hängt tonnenschwer auf meinen Schultern. Aber das kann ich jetzt nicht mehr ändern.
Drei Querstraßen weiter steige ich an einem
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