Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ihn sein Atemdampf umgibt.
»Du kannst nicht leben, wenn du nicht an den Tod denkst.«
Dann rennt er wieder fort, um zu spielen und mit den anderen schreiend auf Federwippen herumzutoben oder mit ihnen auf Gummiteppichen im Kreis zu laufen, auf denen alle Stürze harmlos sind.
Scheiße. Er dürfte nicht älter sein als vier und sagt das zu mir. Ich bin mir nicht sicher, ob er das hat sagen wollen, ich bin mir nicht sicher, ob er versteht, was er da gesagt hat, aber er hat es gesagt, er hat es zu mir gesagt. Ein Kind hat vielleicht nichts zu sagen, aber es sagt etwas; die Worte gleiten durch das Kind hindurch, ohne dass es das merkt. Die Sprache schafft es, dass wir uns verstehen. Wir sind miteinander verstrickt.
Da stand ich auf und ging weiter. Ich ballte nicht mehr die Fäuste, irgendetwas, das die Zeit betraf, hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Ich lief zu Fuß nach Hause, Lichter leuchteten im Vorübergehen auf, die Straßen waren hier besser angelegt, die Fassaden besser ausgerichtet, ich war in Lyon, in einer Stadt, in der eine gewisse Ordnung herrschte, wie sie auch meine Gedanken allmählich annahmen. Ich ging ruhig auf das Stadtzentrum zu.
Auch ich bin einst ein Kind gewesen; und wie so mancher in jener Zeit wohnte ich auf einem Regal. Man brachte die Leute in Parks unter, auf den großen hellen Betonregalen sehr langer, schmaler Hochhäuser. Auf der rechteckigen Grundfläche waren die Wohnungen neben- und übereinander aufgereiht wie Bücher, und zwar auf beiden Seiten des Wohnblocks, die vordere Fassade war voller Fenster und auf der hinteren befanden sich Balkons wie die Waben einer Waffel. Durch den offenen Balkon auf der Rückseite zeigte jeder, was er wollte. Von der zentralen Rasenfläche und vom großen Parkplatz aus sah man alle Stockwerke, und besonders die Balkons, die etwas erahnen ließen, wie die Titel, die man auf dem Rücken von auf Regalen aufgereihten Büchern sieht. Man konnte sich mit den Ellbogen auf das Geländer des Balkons stützen, um dem Treiben unten zuzusehen; die Wäsche etwas länger als nötig aufhängen; sich gegenseitig etwas zurufen; wegen der Kinder einen Streit mit jemandem beginnen; sich hinsetzen; sich hinsetzen und lesen; einen Stuhl und einen winzigen Tisch herausholen und sich mit irgendetwas beschäftigen; man konnte für den Haushalt etwas tun, Gemüse verlesen, Socken stopfen oder kleinere Heimarbeiten für lokale Firmen erledigen. Wir lebten dort und hielten uns gegenseitig ständig im Auge, eine bunte Mischung mehrerer Gesellschaftsschichten. Jeder betrachtete belustigt das Leben auf den Balkons, hegte aber insgeheim den Wunsch zu fliehen. Jeder trachtete danach, genug Geld anzusammeln, um sich ein eigenes Haus zu kaufen oder bauen zu lassen und allein zu leben. Vielen gelang es. Aber in jenen Jahren, als ich noch ein Kind war, lebten wir noch im goldenen Zeitalter der Großraumsiedlungen, die soeben errichtet worden waren, in einer bunten Mischung zusammen. Sie waren noch neu, und wir hatten ziemlich viel Platz. Von der zentralen Rasenfläche aus, auf der eine Zypresse stand und auf der wir spielten, sah ich als Kind rings um mich herum eine Reihe hoher Regale menschlicher Erfahrung; dort waren alle Lebensalter aufgereiht, alle Einkommensklassen – von bescheidenen bis zu mittelständischen Haushalten – und alle familiären Konfigurationen. Ich sah sie aus der Froschperspektive, aus der Sicht eines Dreikäsehochs, sah sie alle gemeinsam auf der sozialen Stufenleiter und alle bemüht, diese möglichst hoch zu erklimmen. Und alle dachten schon daran, ein Haus auf dem Land zu kaufen oder erbauen zu lassen und allein auf einem von einer Lebensbaumhecke umgebenen Grundstück zu leben.
Wir haben dort viel gespielt. Auf den Asphaltflächen zwischen den parkenden Autos konnte man gut Rollschuh laufen. Wir spielten Feldhockey mit einem Tischtennisball und Schlägern aus zwei vernagelten Brettern. Wir befestigten Streifen aus Pappe an unseren Fahrrädern, um das Geräusch der Mopeds nachzuahmen. Wir spielten zwischen den Überresten von endlosen Baustellen, auf denen immer gearbeitet wurde, und auf denen sich Erdhügel befanden, Sandhügel auf Planen, Haufen großer Bretter mit Zementkrusten, Gerüste, auf die wir an den Hanfseilen hinaufkletterten, mit denen Eimer hochgezogen wurden, und lange elastische Bretter, mit deren Hilfe man hohe Luftsprünge machen konnte. Wie viele Baustellen es in jenen Jahren nur gegeben hat! Wir selbst waren zu jener Zeit noch
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