Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ein paar Sätzen die Treppe hinauf, machte so große Schritte, wie meine kleinen Beine es zuließen. Ich betrat unsere Wohnung.
Wir haben nie wieder so tief gegraben, wir blieben fortan nahe der Oberfläche und begnügten uns mit oberflächlichen Arbeiten neben unserer kleinen Autobahn. Die größeren Ausschachtungen nahmen wir an anderen Orten in der Ferne vor. Ich bin auf einem verborgenen Friedhof aufgewachsen; sobald man den Boden aufgrub, stank es. Später wurde mir das bestätigt: Wir haben damals auf einem ehemaligen Friedhof gewohnt. Leute in reifem Alter konnten sich noch daran erinnern. Man hatte Erde aufgeschüttet und gebaut. Nur die große Zypresse auf der zentralen Rasenfläche, um die herum wir ahnungslos gespielt hatten, war noch davon übrig geblieben.
Ich frage mich heute, ob es in den Regalen, in denen wir gewohnt haben, Mörder gegeben hat. Ich kann es nicht bejahen, aber die Statistiken geben eine Antwort darauf. Alle Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, die damals in dieser fröhlichen Siedlung gewohnt haben, alle Freunde meiner Eltern, hätten Mörder sein können. Alle. Mörder. Zweieinhalb Millionen ehemaliger Soldaten, zwei Millionen ausgewanderter Algerier, eine Million vertriebener Algerienfranzosen: Ein Zehntel der Bevölkerung des Territoriums, aus dem Frankreich heute besteht, war direkt vom kolonialen Schandfleck gezeichnet, und das war ansteckend, sowohl durch den Kontakt als auch durch Worte. Unter den Vätern meiner Freunde, unter den Freunden meiner Eltern muss es Menschen gegeben haben, die davon befleckt waren, und aufgrund der geheimen Kraft der Sprache wurden alle davon besudelt. Man sprach das Wort »Algerier« erst nach ganz kurzem Zögern aus, das das Ohr jedoch vernahm, denn das Ohr nimmt die geringsten Modulationen wahr. Man wusste nicht, wie man sie nennen sollte und daher zog man Grimassen und sagte lieber nichts. Man sah sie nicht, und dabei sah man nur sie. Es gab kein Wort, das auf sie passte, und daher blieben sie namenlos, das ließ uns keine Ruhe, wir hatten das Wort auf der Zunge, und die Zunge unternahm tausend Versuche, um es wiederzufinden. Selbst das Wort »Algerier«, das neutral zu sein schien, da es die Bürger der algerischen Republik bezeichnete, war unpassend, da es andere Menschen bezeichnete. Die französische Sprache ist eine Kriegsbeute, wie ein Schriftsteller einmal gesagt hat, der in dieser Sprache schrieb, und er hatte völlig recht, aber auch der Name »Algerier« ist eine Kriegsbeute, eine abgezogene Haut, die noch Blutspuren aufweist, Blutklümpchen, die noch am Skalp kleben, sie bewohnen einen Namen so wie manche im Zentrum von Algier in Wohnungen leben, deren Bewohner vertrieben worden sind. Man weiß nicht mehr, was man sagen soll. Das Wort »Araber« ist von jenen besudelt worden, die es verwenden, »Eingeborene« wird nur noch in der Ethnologie benutzt, »Muslime« betont etwas, was zu Unrecht betont wird, man benutzte die ganze Reihe von Schimpfworten, die man von dort mitgebracht hatte, man erfand das Wort »die Grauen«, um jene zu bezeichnen, die man nicht benennen konnte, man legte uns die Bezeichnung »Maghrebiner« nahe, die ohne Überzeugung ausgesprochen wurde, so wie man einen lateinischen Blumennamen nennt. Die koloniale Fäulnis griff unsere Sprache an; und als wir uns daran machten, ein wenig zu graben, um ihr auf den Zahn zu fühlen, fanden wir eben solche, und die rochen nicht gut.
Die Fensterläden der Wohnung im Erdgeschoss blieben geschlossen, wenn ich mich recht entsinne, und ich sah den Mann mit der Kinderstimme, von dem wir nie erfuhren, in was er sich verwandeln konnte, nie wieder, denn wir waren geflohen. Anschließend lebte ich mit meinen Eltern auf dem Land, auf einem von einer Hecke umgebenen Grundstück; allein in unserem Haus. Auf einer Anhöhe erbaut, hinter einer Laubbarriere, sahen wir jemanden, der zu uns kam, schon aus der Ferne.
In diesem entsetzlichen Getümmel, das zwanzig Jahre dauerte, zwanzig Jahre ohne Unterbrechung, verfolgte jeder Krieg das Ziel, die Spuren des vorherigen zu tilgen: Schwamm drüber, um nach diesem blutigen Festmahl reinen Tisch zu machen und an dem sauberen Tisch wieder auftragen und gemeinsam essen zu können. Zwanzig Jahre lang folgte ein Krieg auf den anderen, und jeder tilgte die Spuren des vorherigen, die Mörder des einen Krieges tauchten im folgenden unter. Denn jeder dieser Kriege brachte unzählige Mörder hervor, Männer, die bis dahin nie ihren Hund
Weitere Kostenlose Bücher