Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
und er verfolgte diese kaum sichtbare Silhouette, diese, nur diese, mit dem Blick. Meine wunderbare Erinnerung, und schon kommt sie, dachte er ganz schnell in wirren Worten, in verworrenen Gedanken, ich erinnere mich an eine außerordentliche Schönheit, die mich geblendet hat, die mich so sehr geblendet hat, dass ich sie kaum erkennen konnte, nur mit versengten Augen, versengtem Gesicht und heiß entflammtem Körper, sie kommt näher, gleich wird sie vor mir stehen, und dann wird mir klar werden, dass sie nur eine Frau ist, deren Gesicht von zwölf weiteren Jahren gezeichnet ist, zwölf Jahren, in denen ich sie nicht gesehen habe, eine normale Frau, eine Frau, die beleibter geworden ist, eine Frau, deren Gesicht ich harmonisch, aber gealtert finden werde, in deren Falten sich das ein bisschen eklige Gewicht von realem Fleisches offenbart. Er sah ihre Hüften näher kommen, er sah ihren glänzenden Blick, er sah, wie sich ihre Lippen zu einem nur ihm geltenden strahlenden Lächeln leicht öffneten, dann küsste sie ihn auf die Wangen. Er war hingerissen, sah nur das Lächeln, das ihm galt, ein von einem Nimbus aus Licht umgebenes Lächeln, ein Wunder geschah, er fand ihre Schönheit vollkommen und makellos.
»Du hast dich kaum verändert, Victorien. Du bist nur ein bisschen kräftiger, ein bisschen schöner geworden. So wie ich es mir kaum zu wünschen gewagt hätte.«
Er war feierlich aufgestanden, hatte einen Stuhl herbeigezogen und forderte sie auf, sich neben ihn zu setzen. Ihre Beine berührten sich leicht, als hätten sich die beiden nie getrennt und als sei in ihnen die Form des anderen noch präsent. Sie ist mir so vertraut wie ein Kleidungsstück, das ich jahrelang getragen habe, dachte er noch immer verwirrt, ihr Gesicht bezaubert mich, strahlt vor Schönheit, und ich kann in ihm nicht wirklich das alt gewordene Fleisch erkennen. Sie rührt mich ganz einfach. Sie ist genauso wie sie sich in meiner Seele eingeprägt hat. Und wenn sie mich mit diesem Lächeln ansieht, seufze ich vor Erleichterung, dann fühle ich mich zu Hause. Sie hat genau die Größe meiner Seele; oder meine Seele ist ihr Kleid, und ich bekleide sie vollkommen. Ihre Schönheit, die ich schon von fern erraten habe, hat auf mich gewirkt wie eine Vorahnung. Euridice, meine Seele, hier bin ich wieder, hier, vor dir.
Euridice nahm in Victoriens Herz Platz, das genau auf ihre Maße zugeschnitten war. Alles an ihr, ihre Augen, ihre Stimme und ihr Gesicht, ihr ganzer Körper, strahlte jenes Licht aus, das zwölf Jahre zuvor und zwölf Jahre lang für ihn geleuchtet hatte. »Sie ist hinreißend«, flüsterte er in einem kaum artikulierten Gestammel, das nur Salomon hörte. Alles ging plötzlich sehr schnell, alles, Salagnon erstickte fast daran, brachte kein Wort über die Lippen, konnte keinen Ton sagen. Zum Glück bestritt Salomon die Unterhaltung weitgehend allein, er brillierte, er hatte seine Zungenfertigkeit wiedergefunden.
Er plauderte über alles und nichts, brach in Rufe oder Lachen aus, grüßte vorübergehende Bekannte, neckte seine Tochter, die nichts darauf erwiderte, denn sie verschlang den schönen Victorien mit ihren Blicken, musterte eingehend sein gereiftes, vom Sand der Zeit geschliffenes Gesicht, das sah Salomon genau, er überließ sie ihrer Betrachtung, er befragte Hauptmann Salagnon nach seinen Reisen, seinen Abenteuern, seinen Erfolgen, und Victorien antwortete ihm verworren und unzusammenhängend, er erzählte vom Dschungel, von Flussarmen, von nächtlicher Flucht durch nasse Wälder. Er spulte seine Erinnerungen ab, zählte sie auf, wie man eine Reihe von Postkarte verschickt, er konnte nichts Besseres tun als seine Sammlung zu zeigen, denn seine Seele konzentrierte sich darauf, in Euridices Gesicht zu lesen und ihre Beine unter dem Tisch zu streifen, diese Beine, an deren Haut, Rundung und Gewicht er sich viel besser erinnerte als an seine eigenen.
Euridices Mann kam hinzu, grüßte alle herzlich und setzte sich; er mischte sich sofort in die Unterhaltung ein; er war ein glänzender Redner, ein perfekter Gesprächspartner für Salomon. Er war ein gut aussehender, theatralischer Mann mit braunen Locken, sein strahlendweißes, weit aufgeknöpftes Hemd ließ seinen gebräunten Oberkörper sehen, er stand an Virtuosität Salomon nicht nach, gab ohne zu geizen einen Strom kluger, witziger Worte von sich, die den Zuhörer aber eher benommen machten anstatt ihn zu überzeugen, anstatt ihm etwas zu sagen, geschweige denn ihn
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