Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Oder aber sie ist nie zu Ende gegangen. Komm und besuch mich eines Tages, wenn du etwas Zeit hast.«
Er betrat mit seinem Köfferchen in der Hand die maurische Villa, und Salagnon sprang in den Jeep, der sofort anfuhr. Sie rasten die abschüssige Straße nach Algier in solchem Tempo hinab, dass sie in jeder Serpentine von der Fahrbahn geschleudert zu werden drohten. »Schneller, schneller«, murmelte Hauptmann Salagnon und klammerte sich an die Windschutzscheibe und dabei genoss er das helle Licht der aufgehenden Sonne, das unten schon die Reede von Algier, die weißen Häuser und die am Kai liegenden Schiffe beleuchtete.
Die vergangenen zwölf Jahre hatten Salomon Kaloyannis gezeichnet, vor allem diese zwölf Jahre.
»Jedes Jahr liegt wie ein schwerer Stein in meinem Marschgepäck«, sagte er zu Salagnon. »Und jedes Jahr ein größerer. Die Jahre lasten auf mir, ich werde immer gebeugter, die Steine, die ich aufsammle, ziehen mich nach unten, sieh dir nur meinen Rücken an, ich bin nicht mehr imstande, mich gerade zu halten. Sieh dir meinen Mund an, die Falten sinken hinab, und wenn ich die Mundwinkel verziehe, gleicht das immer weniger einem Lächeln. Ich tue nichts mehr, Victorien, ich finde nichts Amüsantes mehr in meiner Umgebung, ich habe fast den Eindruck einzurosten, fühle mich wie ein Lampe, die verlöscht. Das ist mir bewusst, ich versuche mich wieder anzuzünden, aber es gelingt mir nicht.
Was ich in der Villa mache? Ich messe den Schmerz. Ich sage den Typen im Untergeschoss, ob sie eine Weile aufhören sollen, oder ob sie weitermachen können. Ob es sich um eine bloße Ohnmacht oder um den sicheren Tod handelt. Es ist Krieg, Victorien. Ich war Sanitätsoffizier und bin in Deutschland gewesen, ich sehe die Anzeichen, ob jemand in Kürze sterben wird oder nicht. Warum ich? Warum ein kleiner Arzt aus Bab el-Oued wie ich mit seinem Köfferchen in die Villa geht? Warum ich euch helfe etwas zu tun, was ihr nie wagen werdet, euren Kindern zu erzählen? Ich habe Angst vor ihrer Gewalt, Victorien. Ich habe gesehen, wie sie Nasen, Ohren oder Zungen abgeschnitten haben. Ich habe gesehen, wie sie Menschen die Kehle durchgeschnitten, den Bauch aufgeschlitzt und ihnen die Gedärme herausgerissen haben. Das sind keine leeren Worte, das haben sie buchstäblich getan. Ich habe gesehen, wie junge Leute, die ich kannte, zu Mördern geworden sind und das gerechtfertigt haben. Ich habe Angst vor dieser Entfesselung gehabt, Victorien. Ich habe Angst gehabt, dass sie uns alle dahinrafft. Und diese Angst ist deshalb so groß, weil ich weiß, dass die Anzahl von potentiellen Mördern unendlich groß ist, denn die Ungerechtigkeit, die in der Kolonie herrscht, ist schreiend. Bisher hat nur die Angst sie daran gehindert, uns umzubringen. Sie haben sich gegenseitig umgebracht. Aber jetzt haben sie keine Angst mehr, jetzt haben wir Angst. Ich habe Angst gehabt, Victorien. Und jetzt legen sie Bomben, die überall explodieren und das zerstören können, an dem ich am meisten hänge. Ich weiß auch, dass mehr Gerechtigkeit nötig wäre, aber die Bomben machen nichts besser, die Bomben lassen uns nur vor Entsetzen erstarren. Das Leben meiner Tochter ist mir viel wichtiger als alle Gerechtigkeit, Victorien. Ich bin hergekommen, um mich hinter eurer Stärke zu verschanzen. Ihr seid die besten Soldaten der Welt geworden. Ihr werdet dafür sorgen, dass das aufhört; wenn ihr es nicht schafft, schafft es niemand.«
Er verstummte. Er hob sein Glas, Salagnon tat es ihm nach, und sie tranken Anisette. Sie knabberten ein paar in Weinessig eingelegte Möhrenscheiben und Lupinenkörner. Eine dichte Menschenmenge bewegte sich in beide Richtungen, überquerte den Platz Les Trois Horloges und ging zugleich in Richtung Bouzaréah.
»Ich glaube, Sie übertreiben trotzdem ein bisschen«, sagte Salagnon leise.
Dann sah er sie. Dabei waren die Straßen von Bab el-Oued voller Menschen, voller schöner dunkelhaariger Frauen in geblümten Kleidern, die so leicht waren, dass sie ihnen um die Hüften wirbelten und sich bei jedem Schritt hoben, wie ein über Gras streichender Wind öffneten sie links und rechts von sich eine Bresche aus Parfum und Blicken. Er sah sie, sah ihre kleine Silhouette, die auf die beiden zukam und ganz langsam in seinem Auge größer wurde, ganz nah an seinem Nervenzentrum. Er wusste, dass sie es war, sie war nicht zu erkennen, aber er hatte es sofort in dem Moment gewusst, als sie in weiter Ferne in der Menge aufgetaucht war,
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