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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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leuchteten wie vom Nebel verhüllte kleine Sonnen. Er sah nicht viel, aber das war unwichtig. Es handelte sich nur um Zahlen, er brauchte nur zu lesen und zu zählen, aber was sein Vater von ihm verlangte, war keine einfache Buchführung. Das Handelshaus Salagnon befleißigte sich einer mehrfachen Buchführung, die von Tag zu Tag variierte. Die Gesetze in Kriegszeiten bilden ein Labyrinth, in dem man sich voranbewegen muss, ohne sich zu verirren und ohne sich zu verletzen; man muss sorgfältig zwischen dem unterscheiden, was zu verkaufen erlaubt ist, was geduldet wird und was rationiert ist; was zu verkaufen illegal ist, aber nur mit leichter Strafe geahndet wird, und dem, was zu verkaufen illegal ist und unter Todesstrafe steht, und schließlich jenen Waren, die der Aufmerksamkeit des Gesetzgebers entgangen sind. Die Buchführung des Handelshauses Salagnon berücksichtigte all diese Aspekte der Kriegswirtschaft. Dementsprechend enthielt sie Wahres, Verheimlichtes, Verschlüsseltes, Erfundenes, Glaubwürdiges für alle Fälle, nicht Nachprüfbares, was sich nicht als solches zu erkennen gab, und sogar die eine oder andere zutreffende Angabe. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien waren natürlich fließend, heimlich errichtet und nur Vater und Sohn bekannt.
    »Ich weiß nicht, wie ich mich darin zurechtfinden soll.«
    »Victorien, bald kommt eine Kontrolle. Also, keine Ausflüchte, mein Warenbestand muss mit der Buchführung und mit den Vorschriften übereinstimmen. Sonst machen die kurzen Prozess. Mit mir und auch mit dir. Irgendjemand hat mich verpfiffen. So ein Rindvieh! Und das hat er so unauffällig getan, dass ich nicht weiß, aus welcher Ecke das kommt.«
    »Sonst regelst du solche Dinge doch auf die sanfte Tour.«
    »Das habe ich auch getan, sonst säße ich jetzt im Gefängnis. Sie kommen nur, um einen Blick in die Buchführung zu werfen. Angesichts der jetzigen Spannungen ist das schon eindeutige Begünstigung. In der Präfektur weht inzwischen ein neuer Wind: Sie wollen Ordnung schaffen, ich weiß nicht mehr, an wen ich mich wenden soll. Aber das sehen wir später, bis dahin vor allem keine Unregelmäßigkeiten in diesen Papieren.«
    »Wie soll ich mich denn darin zurechtfinden? Alles ist falsch oder auch nicht, ich weiß es nicht mehr.«
    Sein Vater verstummte und blickte ihn starr an. Er sah ihn von oben herab an, weil er über ihm auf der Trittleiter thronte.
    »Hör zu, Victorien«, sagte er, wobei er jedes Wort hervorhob. »Was hat das für einen Sinn, dass du noch zur Schule gehst, anstatt zu arbeiten? Was hat das für einen Sinn, wenn du nicht fähig bist, Geschäftsbücher so zu führen, dass sie wahrheitsgetreu wirken?«
    Er hatte nicht unrecht: Wozu diente eine Ausbildung, wenn nicht genau dazu, das Unsichtbare und das Abstrakte zu verstehen und all das zusammenzusetzen, auseinanderzunehmen und zu reparieren, was die ungeschriebenen Regeln der Welt bestimmt. Victorien zögerte und seufzte, und ärgerte sich sogleich selbst darüber. Er stand auf, ergriff das Bündel zerknitterter Papiere und holte das in Leinen gebundene Hauptbuch aus dem Regal.
    »Ich sehe zu, was ich tun kann«, sagte er kaum hörbar.
    »Und vor allem schnell.«
    Er blieb verblüfft auf der mit Akten übersäten Türschwelle stehen.
    »Schnell«, sagte sein Vater noch einmal. »Die Kontrolle kann heute Nacht, morgen, sie kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt stattfinden. Und es werden Deutsche dabei sein. Sie mischen sich inzwischen ein, weil sie sich nicht um ihre Kriegsbeute bringen lassen wollen. Sie haben die Franzosen in Verdacht, sich auf ihre Kosten zu bereichern.«
    »Da haben sie bestimmt recht. Aber sind das nicht die Spielregeln? Ihnen das wieder abzunehmen, was sie uns genommen haben?«
    »Sie sind die Stärkeren, daher kennt das Spiel keine Regeln. Wir haben keine anderen Überlebenschancen als uns listig zu erweisen, aber unauffällig. Wir müssen leben wie die Ratten: unsichtbar, aber präsent, schwach, aber gerissen, und nachts, wenn die Herren schlafen, können wir ihre Vorräte anknabbern, direkt vor ihrer Nase.«
    Der Vergleich gefiel ihm so gut, dass er seinem Sohn zuzwinkerte. Victorien schürzte die Lippen. »So?« Er zeigte seine Schneidezähne, rollte unruhig mit den Augen, was ihm ein arglistiges Aussehen verlieh, und stieß kurze Schreie aus. Das Lächeln seines Vaters verschwand; die gut nachgeahmte Ratte ekelte ihn an. Er bedauerte den Vergleich. Victoriens Gesichtsausdruck wurde wieder normal, und

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