Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
seine reglosen Hände, die vor ihm auf dem Tisch ruhten. Victorien Salagnon hatte schon von klein an breite Hände und kräftige Unterarme besessen. Er konnte die Hände zu dicken Fäusten ballen, auf den Tisch hauen, einen Hieb versetzen; und richtig zuschlagen, denn er hatte einen klaren Blick.
Diese körperlichen Merkmale hätten zu anderen Zeiten einen aktiven Menschen aus ihm werden lassen. Aber 1943 war es in Frankreich nicht üblich, seiner Kraft freien Lauf zu lassen. Man konnte sich unruhig und streng geben, den Anschein eines willensstarken Menschen erwecken und ständig das Wort Aktion im Mund führen, aber das war nur ein Deckmantel. Jeder bemühte sich, beweglich zu sein und sich möglichst klein zu machen, um dem Sturm der Geschichte keine Angriffsfläche zu bieten. 1943 war Frankreich verschlossen wie eine Sommerresidenz im Winter, Türen und Fensterläden waren verriegelt. Der Sturm der Geschichte drang nur durch die Ritzen herein, als Luftzug, der kein Segel zu blähen vermochte; er konnte höchstens bewirken, dass man sich erkältete und allein im Schlafzimmer an einer Lungenentzündung starb.
Victorien Salagnon besaß eine Gabe, die er sich nicht gewünscht hatte. In anderen Zeiten wäre er sich ihrer nicht bewusst geworden, aber der Zwang, das Zimmer zu hüten, hatte ihn mit seinen Händen nähere Bekanntschaft machen lassen. Seine Hand sah wie ein Auge; und sein Auge konnte etwas berühren wie eine Hand. Was er sah, konnte er mit Tusche, mit einem Pinsel oder mit einem Bleistift nachzeichnen, bis es schwarz auf einem weißen Blatt zu sehen war. Seine Hand folgte seinem Blick, als seien sie durch einen Nerv verbunden, als sei bei seiner Zeugung irrtümlicherweise ein direkter Faden zwischen ihnen gezogen worden. Er konnte zeichnen, was er sah, und diejenigen, die seine Zeichnungen sahen, erkannten die Empfindung wieder, die sie beim Anblick einer Landschaft oder eines Gesichts vage gespürt hatten, ohne dass ihnen dieses Gefühl in jenem Moment wirklich bewusst gewesen war.
Victorien Salagnon hätte es vorgezogen, sich nicht mit Nuancen abzugeben, und stattdessen ein Draufgängerleben zu führen, aber er verfügte über eine Begabung. Er wusste nicht, wie er dazu gekommen war, das war zugleich angenehm und entmutigend. Dieses Talent drückte sich durch eine motorische Empfindung aus: andere leiden an Tinnitus, an leuchtenden Flecken im Blickfeld oder an Kribbeln in den Beinen, er dagegen spürte in den Fingern die Borsten eines Pinsels, die Viskosität von Tusche und den Widerstand der körnigen Struktur des Papiers. Da er abergläubisch war, führte er dieses Phänomen auf die Eigenschaften der Tusche zurück, die schwarz genug war, um ein Fülle von dunklen Absichten zu enthalten.
Er besaß einen riesigen, aus einem Glasblock geschliffenen Tuschebehälter; er enthielt einen großen Vorrat jener wunderbaren Flüssigkeit, Salagnon ließ ihn mitten auf dem Tisch stehen, ohne ihn je zu verrücken. Der Behälter war so schwer, dass er vermutlich bombenfest war; nach einem Bombeneinschlag würde man ihn unversehrt zwischen menschlichen Überresten finden, ohne dass er etwas von seinem Inhalt verloren hatte, bereit, das Tun und Treiben eines anderen Opfers in glänzendem Schwarz festzuhalten.
Das Gefühl für die Tusche schnürte ihm das Herz zusammen. Von der 1943 in Lyon herrschenden Atmosphäre dazu verdammt, lange Stunden eingeschlossen zu verbringen, pflegte er diese Begabung, die er unter anderen Umständen vernachlässigt hätte. Er ließ seiner Hand auf dem begrenzten Raum einer Seite alle Bewegungsfreiheit. Diese Bewegung diente ihm als Ventil für die Passivität seines restlichen Körpers. Er nahm sich manchmal vor, sein Talent in Kunst zu verwandeln, aber dieser Wunsch blieb in seinem Zimmer eingeschlossen, ging nicht über den Lichtkreis seiner Lampe hinaus, der so groß war wie ein aufgeschlagenes Heft.
Das Gefühl für die Tusche verließ ihn, er wusste nicht, wie er es festhalten sollte. Der beste Augenblick blieb der Wunsch, der ihn beseelte, kurz bevor er den Pinsel ergriff.
Er öffnete den Verschluss. Die dunkle Masse in dem Glasblock bewegte sich nicht. Von Chinatusche geht weder Bewegung noch Licht aus, ihr vollkommenes Schwarz hat die Eigenschaften der Leere. Im Gegensatz zu anderen undurchsichtigen Flüssigkeiten wie Wein oder schlammiges Wasser ist Tusche gegen Licht gefeit, sie lässt sich nicht von ihm durchdringen. Tusche ist wie eine Abwesenheit, es ist schwer, ihre
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