Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Menge zu bestimmen: es kann ein Tropfen sein, den der Pinsel aufsaugt, oder ein Abgrund, in dem man verschwinden kann. Die Tusche entgeht dem Licht.
Victorien blätterte die Rechnungen durch, öffnete das Hauptbuch. Er zog aus einem Stapel den ersten Entwurf für eine Übersetzung aus dem Lateinischen. Auf die Rückseite kritzelte er ein Gesicht mit weit aufgerissenem Mund. Er hatte keine Lust, sich in die gefälschten Abrechnungen zu vertiefen. Er wusste durchaus, was er abändern musste, damit alles glaubwürdig wirkte. Er zeichnete runde Augen, die er beide mit einem Fleck schloss. Er brauchte sich nur daran zu erinnern, was in den Rechnungen gefälscht war. Nicht alles. Schließlich hatte er sie geschrieben. Er fügte einen Schatten hinter dem Kopf hinzu, der über eine Seite des Gesichts hinausging. Die räumliche Perspektive war allmählich zu erkennen. Er verstand es vorzüglich, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Wie auch im gleichen Augenblick zwei gegensätzlich wirkende Muskeln anzuspannen: das ermüdete genauso sehr wie wenn man wirklich etwas tat, erzeugte aber keine Bewegung; es erlaubte zu warten.
Plötzlich ertönte eine Sirene, dann folgten weitere, die Nacht gab nach wie zerreißender Stoff, alle heulten sie gemeinsam. In dem Haus wurde es auf einmal lebendig. Türen schlugen, Schreie drangen durch das Treppenhaus, die schrille Stimme seiner Mutter entfernte sich schon: »Du musst Victorien rufen.« »Er hat die Sirenen gehört.« Die Stimme seines Vaters wurde immer leiser, war kaum noch zu hören, dann wurde es still.
Victorien putzte seine Feder mit einem Lappen ab. Sonst verklebt die Tusche; der flüssige Leim, der ihr den Glanz verleiht, wird beim Trocknen sehr hart. Tusche ist eine empfindliche Materie. Dann löschte er das Licht und ging die Treppe des Wohnhauses hinauf. Er tastete sich voran, begegnete niemandem und hörte nichts anderes als das metallische Heulen der Sirenen. Als er den letzten Stock erreichte, verstummten sie. Er öffnete das Dachfenster, draußen war alles dunkel. Er kletterte mit Mühe durch die Öffnung, die kaum breiter war als seine Schultern, kroch mit angewinkelten Beinen vorsichtig auf das Dach, tastete mit dem Fuß die Dachziegel ab, ehe er voranschritt. Als er den Rand erreichte, setzte er sich und ließ die Beine baumeln. Er spürte nichts anderes als sein eigenes Gewicht auf seinem Hintern und die eisige Feuchtigkeit der Dachziegel durch seine Hose. Vor ihm öffnete sich ein Abgrund von sechs Stockwerken, aber er sah ihn nicht. Er war von Nebel umgeben, der zwar leicht schimmerte, ihm aber die Sicht nahm, er verbreitete gerade genug Licht, um Salagnon die Gewissheit zu geben, dass er die Augen nicht geschlossen hatte. Er saß im Nichts. Der nicht existierende Raum hatte keine Form und ließ keine Abstände erkennen. Er schwebte darin, unter ihm der imaginierte Abgrund, über ihm, das Nahen von mit Bomben beladenen Flugzeugen. Wenn er nicht die Kälte gespürt hätte, hätte er glauben können, nicht mehr da zu sein.
Ein leises Brummen näherte sich aus der Ferne, ohne identifizierbaren Ursprung, als hätte etwas an den Saiten des Himmelsgewölbes gezupft. In Gruppen angeordnete Lichtfinger wurden mit einem Schlag sichtbar, wie lange zitternde Schilfrohre, die den Raum abtasteten. Orangefarbene Flocken tauchten an ihrer Spitze auf, gefolgt von punktierten Linien; dumpfe Explosionen und knatternde Schüsse drangen mit Verzögerung an sein Ohr. Jetzt konnte er die Linie der Dächer erkennen und den dunklen Abgrund unter seinen Füßen, es wurde auf mit Bomben beladene Flugzeuge geschossen, die er noch nicht sah.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter; er zuckte zusammen, glitt leicht nach vorn, doch eine kräftige Faust hielt ihn zurück.
»Was machst du denn hier?«, flüsterte ihm sein Onkel ins Ohr. »Alle sind im Luftschutzkeller.«
»Wenn ich die Wahl habe, ziehe ich es vor, nicht in einem Loch zu sterben. Stell dir bloß vor, eine Bombe schlägt hier ein! Das Haus stürzt ein, und wir sterben alle im Keller. Man kann meine Überreste nicht mehr von denen meiner Mutter, denen meines Vater und den Resten der Leberwurstdosen unterscheiden, die er dort lagert. All das wird dann gemeinsam begraben.«
Der Onkel antwortete nicht, hielt ihn aber weiter an der Schulter fest; er sagte oft nichts, wartete, bis sein Gegenüber verstummte.
»Außerdem mag ich Feuerwerk sehr gern.«
»Du Esel!«
Das Brummen der Flugzeuge ließ nach, driftete nach Süden ab,
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