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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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diesmal lächelte er .
    »Wenn wir schon die Zähne zeigen, dann würde ich lieber Löwenzähne als Rattenzähne zeigen. Oder Wolfszähne. Die sind leichter zu bekommen und genauso wirksam. Ja, Wolfszähne, die würde ich gern zeigen.«
    »Sicher, mein Sohn. Ich auch. Aber man kann seine Wesensart nicht wählen. Man muss der Veranlagung folgen, die einem in die Wiege gelegt ist, und wir werden künftig als Ratten auf die Welt kommen. Es gibt Schlimmeres, als eine Ratte zu sein. Sie gedeihen genauso gut wie die Menschen, und zwar auf ihre Kosten; sie führen ein viel besseres Leben als die Wölfe, auch wenn sie stets im Dunkeln bleiben.«
    Auch wir leben im Dunkeln, dachte Victorien. Diese Stadt mit ihren schmalen Gassen, ihren schwarzen Mauern und ihrem nebligen Klima, das sie vor sich selbst verbirgt, ist schon nicht sehr hell; und hinzu kommt, dass man die Stärke der Glühbirnen reduziert, die Scheiben blau streicht und Tag und Nacht die Vorhänge zuzieht.
    Im Übrigen gibt es kein richtiges Tageslicht mehr. Nur noch ein Halbdunkel, das sich gut für unser Rattendasein eignet. Wir leben wie die Eskimos in stetiger Winternacht, das Leben von Ratten am Nordpol in wechselnder Folge von finsteren Nächten und nebelhaften Abenddämmerungen. Das ist überhaupt eine Idee, dachte er, da gehe ich hin, ich lasse mich im Polarkreis nieder, wenn der Krieg zu Ende ist, in Grönland, egal wer siegt. Da ist es düster und kalt, aber draußen ist alles weiß. Hier ist alles gelb, widerlich gelb. Das zu schwache Licht, die lehmverputzten Wände, die Pappkartons, der Staub in den Geschäften, alles ist gelb, und sogar die wächsernen blutleeren Gesichter. Ich träume davon, Blut zu sehen. Hier wird es so sehr beschützt, dass es nicht mehr fließt. Weder auf die Erde noch in den Adern. Man weiß nicht mehr, wo das Blut ist. Ich möchte rote Spuren im Schnee sehen, nur wegen des starken Kontrasts und zum Beweis dafür, dass es das Leben noch gibt. Aber hier ist alles gelb, schlecht beleuchtet, es ist Krieg, und ich sehe nicht, wohin ich die Füße setze.
    Er wäre fast gestolpert. Es gelang ihm gerade noch, die Papiere nicht fallen zu lassen, dann ging er brummelnd und mit schlurfendem Schritt weiter, dem typischen Gang von Heranwachsenden beim Familienausflug, wenn sie gleichzeitig einen Schritt nach vorn und einen Schritt zurück machen und sich folglich nicht von der Stelle rühren. Er, der außerhalb seines Zuhauses so energisch war, begnügte sich bei seinen Eltern mit reduzierter Beweglichkeit; das passte nicht zu ihm, aber er konnte sich dessen nicht erwehren: innerhalb dieser vier Wände schleppte er sich dahin, empfand ein gelbsuchtähnliches Unwohlsein, einen krankhaften Ekel vor schwach beleuchtetem, verblichenem Gelb.
    Inzwischen war es Zeit geworden, den Laden zu schließen, und Madame Salagnon war in den Nebenraum gekommen, der ihnen als Wohnung diente. Victorien sah sie von hinten, sah die runde Linie ihrer Schultern und ihren Rücken mit dem dicken Knoten ihrer Haushaltsschürze. Sie hatte sich über das Spülbecken gebeugt – Frauen verbringen viel Zeit mit Spülen und Waschen. »Das hier ist kein Ort, das sind keine Tätigkeiten für einen Jungen«, stöhnte sie oft; und dieses Stöhnen war manchmal resigniert, manchmal voller Auflehnung, aber stets seltsam zufrieden.
    »Du musst früh nach unten kommen«, sagte sie, ohne sich umzuwenden. »Dein Onkel hat sich zum Abendessen angemeldet.«
    »Ich muss noch arbeiten«, sagte er und hielt das Rechnungsbuch dem Rücken seiner Mutter entgegen.
    So redeten sie miteinander, mit Handbewegungen, ohne sich anzusehen. Er stieg beschwingt ins Zwischengeschoss, denn er mochte seinen Onkel gern.
    Sein Zimmer war gerade groß genug für ihn; im Stehen streifte er leicht die Decke; mehr als ein Bett und ein Tisch passten nicht hinein. »Es hätte uns als Kleiderkammer dienen können, und wenn du nicht mehr da bist, werden wir es als Abstellkammer benutzen«, sagte sein Vater nur halb im Scherz. Eine Karbidlampe warf einen blendenden Lichtkreis von der Größe eines aufgeschlagenen Hefts auf den Tisch. Das genügte. Der Rest brauchte nicht beleuchtet zu werden. Er zündete die Lampe an, setzte sich und hoffte, dass irgendetwas geschehen möge, das ihn daran hinderte, diese Arbeit zu verrichten. Das Geräusch der Karbidlampe hörte sich an wie das ununterbrochene Zirpen einer Grille, es ließ die Nacht tiefer erscheinen. Er war allein vor dem hell erleuchteten Kreis. Er betrachtete

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