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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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zerbröckeln und den gleichen Geruch verströmen wie Tonscherben an Ausgrabungsstätten.
    Wenn ich aus dem Haus gehe, sehe ich ihn! Er liegt am Fuß des Halteverbotsschilds in einem Schlafsack, aus dem nur eine schmutzige Strähne seines Haarschopfs herausguckt. Der Clochard des Viertels vor meiner Tür zeigt sich nicht gern. Wenn er schläft, lässt er nur die Andeutung einer menschlichen Form erkennen, jener Form, die die body bags zu verbergen suchen, die schwarzen Plastiksäcke, in denen man die militärischen Verluste aufbewahrt.
    Die Bürgersteige sind so schmal, dass ich über ihn hinwegsteigen muss. Er rollt sich um den Pfahl des Halteverbotsschilds und wirkt wie eine in ein Spinnennetz gefallene Beute. Er wird lebendig konserviert, in einem Kokon aufgehängt, und wartet darauf, dass die Spinne ihn frisst. Er hat das Ende seines Sturzes erreicht, aber auf dem nackten Boden dauert es lange, ehe man stirbt.
    Ich könnte durchaus verstehen, wenn der Reiz, den der Sturz auf mich ausübt, Verwunderung hervorruft. Ich hätte es mir schließlich einfacher machen können: Ich brauchte bloß aus dem Fenster zu springen. Oder einen Schlafsack zu nehmen und auf die Straße zu gehen. Aber was soll ich auf der Straße? Dann könnte ich genauso gut tot sein; aber das möchte ich nicht. Ich möchte fallen, aber nicht gefallen sein. Ich wünschte mir, langsam zu fallen, und dass die Dauer des Falls mir die Höhe anzeigt, an der ich mich befunden hatte. Ich weiß, das ist beleidigend, so wie der Ekel der Reichen beleidigend ist: Beleidigend für jene, die wirklich fallen und nicht fallen wollten! Gebietet wahres Leiden nicht, dass man schweigt? Ja, dass man schweigt.
    Diejenigen, die leiden, haben nie den Wunsch zu schweigen. Diejenigen, die nicht leiden, ziehen dagegen einen Nutzen aus dem Leiden. Es ist ein Zug auf dem Schachbrett der Macht, eine versteckte Bedrohung, eine Aufforderung zu schweigen. Gehen Sie doch auf die Straße, wenn Ihnen daran liegt! Wenn Sie nicht zufrieden sind: raus! Wenn Ihnen das nicht passt: gehen Sie! Es gibt genug Leute, die nur darauf warten, Ihre Stelle zu übernehmen. Und sogar eine nicht ganz so gute Stelle; sie geben sich gern damit zufrieden. Wir werden ihnen eine nicht ganz so gute Stelle anbieten, und sie werden nicht mucken, nur allzu glücklich darüber, dass sie sie bekommen. Wir werden Verhandlungen führen, um die Stellen zu ungünstigeren Bedingungen vergeben zu können, wir werden Verhandlungen führen, um die soziale Stufenleiter verkürzen zu können. Wir werden Verhandlungen führen, um den sozialen Abstieg zu beschleunigen. Man darf nicht stehen bleiben, muss schweigen. Sich einschränken. Weniger verlangen. Schweigen. Clochards sind wie auf Pfähle aufgespießte Schädel am Eingang von Kriegsgebieten: sie bedrohen, zwingen zur Stille.
    Ich reduziere meine Existenz immer mehr. Ich lebe jetzt in einem einzigen Raum, in dem ich alles tue; und ich tue nur sehr wenig. Ich kann alles, was ich besitze, in zwei Koffern unterbringen; ich kann sie gemeinsam tragen, einen in jeder Hand. Aber das ist noch zu viel, ich habe keine freie Hand mehr, ich muss noch tiefer fallen. Ich würde mich gern auf meine körperliche Hülle beschränken, um mir Gewissheit zu verschaffen. Gewissheit worüber? Ich weiß es nicht, aber dann werde ich es wissen.
    Nur Geduld, mein Lieber: Die große Bloßstellung wird nicht auf sich warten lassen. Und dann werde ich es wissen.
    Ich habe bessere Tage gekannt und ihnen den Rücken gekehrt.
    Mit meiner Frau lief alles schlecht, aber lautlos, ohne Aufsehen zu erregen. Das Knirschen, das wir wahrnahmen, führten wir auf das Unverständnis der Geschlechter zurück, das derart erwiesen ist, dass darüber Bücher geschrieben werden, oder auf die zerstörende Kraft des Alltags, die derart erwiesen ist, dass darüber andere Bücher geschrieben werden, oder auf die Wechselfälle des Lebens, das wie man weiß, nicht einfach ist. Aber unsere Ohren haben uns getäuscht, dieses Knirschen war in Wirklichkeit ein Kratzen, wir hörten das ununterbrochene Geräusch des Bohrens eines Tunnels unter unseren Füßen. Der Tunnel stürzte eines Samstags ein. Wochenenden erleichtern den Einsturz. Man sieht sich länger, und selbst wenn man den Zeitplan gut ausfüllt, bleibt noch etwas Spielraum. Es bleibt immer etwas Freizeit an den beiden Tagen, an denen man nicht arbeitet. Was für ein grandioses Massaker das war!
    Es begann wie gewöhnlich mit einem klar umrissenen Programm.

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