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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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idiotisches, seit jeher existierendes Konzept. Man muss nicht wissen, was man zuordnet, sondern es genügt, es zu tun. Das Denken in Rassenkategorien erfordert weder Verachtung noch Hass, es wird einfach mit der fieberhaften Gründlichkeit eines Psychotikers angewandt, der die Flügel, die Beine und den Körper einer Fliege in unterschiedliche, penibel beschriftete Dosen legt.
    Woher komme ich?, fragte ich mich.
    Der Heliumballon flog mit dem Wind davon; der seidene Sprachfaden hielt nichts mehr zurück. Welche Rasse erkennt man in mir?
    Ich habe natürlich Vorfahren, aber nur wenige. Wenn ich das Blut, das in meinen Adern rinnt, bis an seine Quelle zurückverfolge, komme ich nicht weiter als bis zu meinem Großvater. Er ist der Berg, an dessen Fuß die Quellen entspringen und der die Sicht versperrt. Weiter reicht mein Blick nicht; er ist der Horizont, ganz nah. Er hatte sich die Frage nach seiner Abstammung ebenfalls gestellt; und er fand darauf keine Antwort. Er sprach unermüdlich über die Generationen. Er sprach über alles, sprach sehr viel, hatte zu allem eine feste Meinung, aber über keinen anderen Gesprächsgegenstand war er so geschwätzig und kategorisch wie zum Thema der Generationen. Er war Feuer und Flamme sobald dieses Thema angesprochen wurde. »Seht nur«, sagte er und hob dabei die Hand. Mit dem rechten Zeigefinger zählte er die Gelenke der ausgestreckten linken Hand ab. Er zeigte auf die einzelnen Fingerglieder, das Handgelenk und den Ellbogen. Jedes Gelenk symbolisierte einen Verwandtschaftsgrad. »Bei den Kelten«, sagte er, »reichte das Heiratsverbot bis hierhin.« Und dabei zeigte er auf seinen Ellbogen. »Die Germanen akzeptierten die Heirat ab dem Handgelenk. Und jetzt sind wir hier«, erklärte er und wies mit dem Zeigefinger auf die Glieder seines ausgestreckten Mittelfingers. »Das ist die zunehmende Dekadenz«, sagte er und strich voller Abscheu mit dem Zeigefinger über seinen Arm, vom Ellbogen bis zur Fingerspitze, was die unerbittliche Zunahme der Blutsverwandtschaft ausdrücken sollte. Er deutete auf seinem Arm die jeweilige Stelle des Verbots an, je nach Zeitalter und Volk. Es lag so viel Selbstsicherheit in seinen Worten, dass ich sprachlos war. Er besaß auf dem Gebiet der Generationen ein Universalwissen. Er wusste alles über die Vererbung von Gütern und Namen. Er sprach mit einer Stimme, die mir ein wenig Angst einflößte, mit jener näselnden, theatralischen Stimme, wie sie früher in Frankreich üblich war und wie man sie nur noch in alten Filmen hören kann oder in den knisternden Radioaufzeichnungen, in denen sich jemand bemüht, besonders gut zu sprechen. In seiner Stimme schwang der metallische Klang der Vergangenheit mit, ich saß tiefer als er auf einem meiner Größe angemessenen Hocker, und seine Stimme flößte mir ein wenig Angst ein.
    Wenn mein Großvater erzählte, saß er in seinem Sessel aus blauem Samt, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand, und hinter ihm hing an der einen Wand ein Messer in einer Scheide. Manchmal schwang es bei einem Luftzug lautlos hin und her. Irgendjemand hatte es einmal vor meinen Augen von der Wand genommen und die Klinge aus der Scheide aus verbrauchtem Leder gezogen. Die roten Spuren auf der Klinge konnten Rost oder Blut sein. Man ließ mich im Zweifel und machte sich über mich lustig. Eines Tages erwähnte jemand Gazellenblut, und es wurde noch lauter gelacht. An der anderen Wand hing eine große gerahmte Zeichnung, auf der eine Stadt abgebildet war, die ich nie habe situieren können. Die Häuser waren abgerundet, die Passanten verschleiert und die Straßen voller Vordächer aus Segeltuch: die Formen verschmolzen miteinander. Ich erinnere mich an diese Zeichnung wie an einen Geruch, aber ich habe nie gewusst, welchem Erdteil man sie zuordnen konnte.
    Um zu erzählen, setzte sich mein Großvater in seinen großen blauen Samtsessel, den niemand anders benutzte. Er zog die Hosenbeine hoch, damit sich die Hose nicht in Höhe der Knie verformte. Die abgerundete Rückenlehne ragte hoch über seine Schultern hinaus und umgab seinen Kopf mit einem Halbkreis aus mit Nägeln verziertem Holz. Er saß kerzengerade, legte die Arme auf die Armlehnen und schlug nie die Beine übereinander. Sobald er bequem saß, begann er zu erzählen. »Es ist wichtig, den Ursprung unseres Namens zu kennen. Unsere Familie lebt in der Nähe der Grenze, aber ich habe die Spur ihres Namens mitten in Frankreich gefunden. Dieser Name ist sehr alt und bedeutet

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