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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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dabei um eine leere Schachtel, wie mir die Grammatik sagt, so wie sie in den Büchern steht; nichts, absolut nichts, kann mir sagen, um wen es sich handelt. Das Pronomen ist wie eine Schachtel, über deren Inhalt nichts ausgesagt wird, aber der Kontext weiß, wovon die Rede ist. Jeder weiß das. Das Pronomen ist wie eine leere Schachtel, und jeder weiß, was sie enthält, ohne sie öffnen zu müssen. Man versteht mich.
    Wie schaffen die Ordnungshüter es bloß, sie wiederzuerkennen? Die Spannung schärft die Sinne. Und die Situation in Frankreich ist ziemlich angespannt. Ein weggeworfener Fahrschein, und schon wird ein Bahnhof geplündert, geht in Flammen auf. Übertrieben? Ganz und gar nicht. Ich könnte viel schlimmere Beispiele anführen, die alle wahr sind. Die Situation in Frankreich ist angespannt. Ein in einem Bahnhof auf den Boden geworfenes Metroticket hat einen militarisierten Einsatz zur Aufrechterhaltung der Ordnung ausgelöst.
    Ein Funken, und alles brennt. Wenn der Wald brennt, liegt das daran, dass er sehr trocken und voller Unterholz ist. Man stellt dem Funken nach; man will den Zuwiderhandelnden festnehmen. Man will den Typen haben, der den Funken gezündet hat, ihn schnappen, seinen Namen nennen, seine Schandtat bloßstellen und ihn hängen. Aber Funken werden ununterbrochen hervorgebracht. Der Wald ist trocken.
    Ein Kontrollbeamter hatte eines Tages einen jungen Mann aufgefordert, ihm seinen Fahrschein zu zeigen. Dieser hatte den Fahrschein gerade weggeworfen. Er schlug dem Kontrollbeamten vor, ein Stück mit ihm zurückzugehen, um ihn wiederzufinden. Der Kontrollbeamte wollte ihn jedoch beiseite ziehen, um das Delikt zu Protokoll zu nehmen. Der junge Mann protestierte; der Kontrollbeamte beharrte auf brutale Weise auf seinem Recht, ein Gesetz dulde keine Infragestellung. Danach entstand eine verworrene Situation, die keiner der Zeugen erklären konnte. Über den Beginn der Gewalttätigkeiten widersprachen sich die Zeugenaussagen. Die Handlungen schienen Quantensprüngen zu gehorchen, die Ereignisse folgten einer unbekannten Logik, die sich nur mit Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsrechnung erklären ließ. Die Sache hätte durchaus nicht stattfinden können, doch sie fand statt und blieb daher unerklärlich. Man konnte sie nur erzählen.
    Die Ereignisse lösten eine Kettenreaktion aus: Die Lawine kam ins Rollen, weil alles unstabil, alles zum Ausbruch bereit war. Der Kontrollbeamte versuchte den Schwarzfahrer beiseite zu ziehen, doch dieser protestierte. Eine Schar junger Leute umringte sie. Die Polizei traf ein. Die jungen Leute brüllten unsinniges Zeug. Die militärisch organisierte Polizei ging zum Angriff über, um den Bahnhof zu räumen. Die jungen Leute rannten fort und schleuderten erst kleine und dann größere Gegenstände durch die Luft, die sie zu mehreren aus ihrer Verankerung lösten. Die Polizei trat in Kampfordnung an. Die Männer in ihrem Harnisch stellten sich in einer Reihe hinter ihren Schutzschilden auf. Sie feuerten Tränengasgranaten ab, griffen an und nahmen Menschen fest. Das Tränengas breitete sich im Bahnhof aus. Aus der Metrostation strömten weitere junge Leute in die Bahnhofshalle. Es war überflüssig, ihnen die Situation zu beschreiben: Sie schlossen sich den Jugendlichen an, ohne dass man ihnen etwas erklären musste. Alles war so unstabil; nun konnte die Konfrontation beginnen.
    Glasscherben bedeckten den Boden, Tränengas erfüllte die Luft, der Bahnhof war verwüstet. Weinende Menschen kamen gebeugt heraus, hielten einander an den Schultern fest. Blaue Busse mit vergitterten Fenstern parkten ringsumher. Der Verkehr wurde unterbrochen, die Straßen mit Metallbarrieren abgeriegelt, und der Zugang wurde von uniformierten Polizisten sowie von athletischen Männern in Zivil kontrolliert, die knisternde Walkie-Talkies in der Hand hielten.
    Aus einem zerbrochenen Fenster drang dichter Asphaltrauch und stieg in einer Säule zum Himmel auf. Der Bahnhof stand in Flammen. Eine Feuerwehrbrigade kam zur Verstärkung und wurde von Männern eskortiert, die sie mit ihren Schilden schützten. Kleine Gegenstände hagelten auf das Plexiglas und den Asphalt rings um sie herum; sie besprühten den Bahnhof mit Schaum.
    Das mag absurd erscheinen: Ein Fahrschein und ein Bahnhof sind unvergleichbar. Aber es handelt sich hier nicht um Unordnung: die Beteiligten in beiden Lagern kannten ihre Rolle im Voraus. Nichts war vorbereitet, aber alles war bereit; der Fahrschein, der den Aufruhr

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