Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
Vom Netzwerk:
jene nebelhafte Vorstellung zurück, die sie seit jeher verfolgt. Obwohl diese Vorstellung mehrfach ausgemerzt und in wissenschaftlichen Abhandlungen widerlegt worden ist, taucht sie immer wieder auf, durch Gerüchte, Unausgesprochenes oder den Drang, endlich zu begreifen: Wenn der Wunsch nur stark genug ist und man die Sache ein wenig interpretiert, erlaubt die Molekularanalyse, die Vorstellung des Blutes wieder aufzugreifen. Zwischen den Zeilen scheint die Untersuchung der Moleküle und ihrer Vererbung die Vorstellung zu bestätigen, dass es Menschenrassen gibt. Man glaubt nicht daran, man sehnt sie sich herbei, doch schließlich wird sie verworfen. Und schon taucht die Vorstellung wieder auf, so stark ist unser Wunsch, in dem rätselhaften Geheimnis der Ähnlichkeit eine Ordnung zu entdecken.
    Meine Großmutter war also Ungarin und mein Großvater Kelte. Sie eine schlitzäugige berittene Menschenfresserin, er ein blau tätowierter nackter Koloss. Sie stürmt im Staub, den die Pferde aufwirbeln, über die Steppe, um Dörfer zu plündern, Kinder zu rauben und zu verschlingen, und Bauwerke zu zerstören, um den gesamten Raum wieder dem Gras und der nackten Erde zurückzugeben; und er zieht sich betrunken in eine runde, übelriechende, geschlossene Hütte zurück, um sich ungesunden, mit Musik verbundenen Riten zu unterziehen, die den Körper nicht unversehrt lassen.
    Wie hat bloß ihre Begattung stattgefunden? Ihre Begattung. Denn begattet haben sie sich, schließlich sind sie meine Großeltern. Wie haben sie das fertiggebracht? Sie Ungarin, er Kelte, wilde Völker aus dem alten Europa, wie haben sie es überhaupt geschafft, sich einander zu nähern? Zu nähern. Wie haben sie es geschafft, lange genug am selben Ort zu bleiben, obgleich sie in völlig unterschiedlichen Rhythmen durch Europa zogen? Fand das unter Bedrohung statt? Unter der Bedrohung von Lanzen mit gezähnten Klingen, Bronzeschwertern, zitternden, auf der Sehne von Bögen mit doppelter Biegung liegenden Pfeilen? Wie haben sie es geschafft, sich lange genug regungslos aneinanderzuschmiegen, ehe einer von beiden sein ganzes Blut verlor?
    Haben sie sich geschützt? Haben sie sich gegen die Kälte geschützt, die eisige Kälte im alten Europa, das von Völkern aus grauer Vorzeit durchquert wurde, haben sie sich gegen die Klingen geschützt, mit denen sie aufeinander einschlugen, sobald sie einander nahe genug waren? Sie trugen nach Verwesung riechende Kleider aus Leder, von Tieren abgerissene Pelze, mit Nägeln besetzte Harnische aus gekochter Haut und Schilde, die mit von roten Zeichen umringten Stierköpfen bemalt waren, aus deren Nüstern Blut rann. Konnten sie sich schützen?
    Die Begattung fand trotzdem statt, denn ich bin da, aber wo nur? Wo konnten sie sich umarmen, da es keinen Ort gab, an dem sie sich gemeinsam hätten hinlegen können, außer auf einem Schlachtfeld? Denn die einen ritten Tag und Nacht auf schweißnassen Pferden, und die anderen versammelten sich in großen, mit Knochen übersäten, von einer Palisade aus spitzen Pfählen umgebenen Pferchen.
    Wo konnte das nur stattfinden, wenn nicht auf zertrampeltem Gras, inmitten von rauchenden Ruinen und herumliegenden zerbrochenen Waffen? Wie konnte das zwischen zwei Völkern stattfinden, die nichts verband, wenn nicht inmitten von Kriegstrümmern oder im bebenden Schatten von hohen, in die Erde gerammten Standarten, die die Geister beschwören sollten? Oder auf dem moosigen Boden eines Waldes mit riesigen Bäumen? Oder auf dem Steinboden einer monolithischen Burg? Wie nur?
    Ich weiß nichts über ihre Begattung. Ich verstehe nur die beiden Worte »Kelte« und »Ungarin«. Ich verstehe nicht, was mein Großvater damit sagen wollte, als er mir und den anderen die Ergebnisse seiner Blutuntersuchung mitteilte. Er sagte diese Worte in der warmen Luft des winterlichen Wohnzimmers, »Kelte« und »Ungarin«, und ließ danach eine Stille entstehen. Die Worte schwollen an. Er hatte sein Blut zum Sprechen gebracht, ich weiß nicht, was er wissen wollte, ich weiß nicht, warum er uns das an einem Wintertag erzählte, an dem wir alle um ihn versammelt waren und ich auf einem Hocker saß, der meiner Größe entsprach. »Kelte«, sagte er, »und Ungarin.« Er ließ diese beiden Worte fallen so wie man zwei scharfen Hunden den Maulkorb abnimmt, und ließ sie auf uns los. Er verriet uns, was man in einem Blutstropfen lesen konnte. Er sagte es uns, während wir um ihn versammelt waren: Das Blut verband uns.

Weitere Kostenlose Bücher