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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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Ackerbau, Verwurzelung. Die Namen sprießen aus dem Boden wie Pflanzen und verbreiten sich anschließend durch deren Samenkörner. Die Namen sagen etwas über den Ursprung aus.«
    Ich saß auf einem meiner Größe angemessenen Hocker und hörte ihm zu. Er besaß ein umfangreiches Wissen zum Thema der Generationen. Er konnte anhand der Schreibweise eines Wortes etwas über dessen Vergangenheit aussagen. Er konnte die Lautverschiebungen nachvollziehen, die es erlaubten, vom Namen eines Ortes zu dem eines Klans zu gelangen.
    Später, viel später, als ich meine Stimme zurückerobert hatte, fand ich nicht die geringste Spur von all dem, was er mir erzählt hatte, in einem Buch oder einem Gespräch, das ich führte. Ich glaube, er erfand. Er stützte sich auf Dinge die er nur vom Hörensagen kannte, schmückte sie aus und nutzte zufällige Übereinstimmungen systematisch aus. Er nahm seinen Hang, Dinge zu erklären, sehr ernst, aber die Realitäten, die er uns beschrieb, existierten nur im Umkreis seines blauen Sessels und nur solange er sie uns erzählte. Was er sagte, war nur in seinen Worten präsent, aber sie faszinierten uns durch den näselnden Klang der Vergangenheit, die sie zu hören erlaubten. Was die Generationenthematik betraf, war sein Wunsch nach Regeln unersättlich und sein Wissensdurst unstillbar. Keine Enzyklopädie konnte einen solchen Heißhunger befriedigen, und daher erfand er all das, dessen Existenz er sich wünschte.
    Im hohen Alter begeisterte er sich für die Genetik. Er eignete sich deren Prinzipien in populärwissenschaftlichen Zeitschriften an. Die Genetik gab ihm endlich eine klare Antwort auf das, was er schon immer hören wollte. Er ließ sein Blut untersuchen, wollte es zum Sprechen bringen. Ich habe zwanzig Jahre und ein paar Semester gebraucht, um zu begreifen, wie man Blut zum Sprechen bringt. Mein Großvater hatte sich an ein Labor gewandt, das die an die weißen Blutkörperchen gebundenen Moleküle typisierte. Moleküle sterben nie, sie werden weitergegeben wie Worte. Die Moleküle sind die Worte, und wir sind deren Sätze. Mit der Bestimmung der Worthäufigkeit kann man die geheimsten Gedanken der Menschen erfahren.
    Er ließ in einem Labor alle Blutgruppen analysieren, deren Träger er war. Er erklärte uns, was er suchte. Ich irrte mich im Wort und sprach von blutigen Gruppen. Das brachte alle zum Lachen, aber in den Augen meines Großvaters leuchtete ein Funke von Interesse auf. »Das Blut«, sagte er, »ist die wichtigste Zutat. Man erbt es, man teilt es, und man sieht es von außen. Das Blut, das durch eure Adern fließt, gibt euch Farbe und Form, denn es ist die Brühe, in der ihr gekocht worden seid. Das menschliche Auge kann die unterschiedlichen Blutarten erkennen.«
    Mein Großvater ließ sich und seiner Frau Blut abnehmen. Die gut verschlossenen Reagenzgläser wurden mit ihren Namen beschriftet. Er schickte sie dem Labor und ließ in einer Probe seines Blutes das Geheimnis der Generationen lesen. Sehen Sie sich nur die Unruhe in der Welt an, die Sie umgibt. Man ahnt, dass es irgendetwas gibt, das Ordnung schaffen könnte. Es handelt sich um die Ähnlichkeit; man könnte es auch »Rasse« nennen.
    Das Ergebnis wurde ihm in einem dicken Umschlag zugeschickt, wie dem eines offiziellen Dokuments, er öffnete ihn mit klopfendem Herzen. Unter dem hochmodernen Unternehmenslogo des Labors wurden ihm die Ergebnisse der Analysen mitgeteilt, die er bestellt hatte. Mein Großvater war Kelte, und meine Großmutter Ungarin. Das verkündete er uns an einem Wintertag, an dem wir uns alle bei ihm zum Essen getroffen hatten. Er Kelte, sie Ungarin. Ich fragte mich, wie er es geschafft hatte, meine Großmutter zu überreden, sich etwas Blut abzunehmen lassen. Das Labor hatte sein Urteil gefällt, und zwar aufgrund eines Verfahrens, dessen Einzelheiten er uns nicht erklärte, das interessierte ihn nicht im Geringsten. Er interessierte sich nicht für Einzelheiten. Das Ergebnis war ihm in einem dicken Umschlag zugesandt worden, und für ihn zählte nur eins: Sie war Ungarin und er Kelte.
    Er hatte von den Biowissenschaften nur einen nebensächlichen Aspekt behalten, der in den akademischen Abhandlungen nicht zu finden ist, aber in den leicht zu lesenden Zeitschriften, den einzigen, die man wirklich liest, immer wieder auftaucht. Er interessierte sich nicht für Abstraktionen, wollte Antworten, und diese Antworten nannte er Tatsachen. Er behielt von der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts nur

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