Die Frau am Tor (German Edition)
nachsinnen.”
Hör endlich auf, du alter Quälgeist, dachte er und spürte, wie sein Unwillen sich in Wut zu verwandeln drohte, wenn er das Gespräch nicht sofort beendete. Er bereute es schon, ihm den Briefkastenschlüssel gegeben zu haben.
“ Sie werden entschuldigen, aber ich bin ein wenig in Eile und muss Koffer packen”, sagte er und wandte sich zur Treppe.
“ Schon gut, schon gut, lassen Sie sich von mir nicht aufhalten”, hörte er Bergheim vor sich hin grummeln.
Als er seine Wohnung betrat, überkam ihn eine ähnliche Anwandlung, wie er sie von früher kannte, wenn er nach langen Reisen in seine jeweilige Wohnung zurückgekehrt war. Aber im Unterschied zu damals war sie jetzt mit keinerlei Drang verbunden, die gewohnte Vertrautheit wiederzuentdecken. Er ging durch die Räume und fühlte sich paradoxerweise auch hier, wie zuvor in Evas Wohnung, wie ein Besucher. Dass er beim Einatmen immer noch letzte Reste von den Dünstungen des Alkohols in der Raumluft zu spüren meinte, beruhte vermutlich nur auf Einbildung.
Er hatte lediglich den einen Wunsch, möglichst schnell wieder aus dieser Wohnung, aus diesem Haus, aus dieser Gegend und aus dieser Stadt zu verschwinden. Auch wenn er nicht wusste, was jetzt im Haus der Gerlachs vor sich ging, reichte ihm das, was er gesehen hatte – vor allem der Anblick des unauffällig-auffälligen grauen Wagens, der fast zwangsläufig an Polizei denken ließ -, um einen geradezu existenziellen Fluchtreflex bei ihm auszulösen, viel stärker als bei seinen bisherigen Versuchen, das alles hinter sich zu lassen, die allesamt gescheitert waren. Sein Verstand meldete sich zwar kurz mit dem Einwand, dass dies letzten Endes kaum eine realistische Option war, um absehbaren Schwierigkeiten dauerhaft zu entkommen, aber er überhärte und verdrängte das. Er wollte nur noch weg. Statt sich noch länger hier aufzuhalten, würde er jetzt sofort nach Potsdam zurück fahren und sich irgendwie die Zeit vertreiben, bis er Eva von der Arbeit abholen konnte. Vielleicht ließ sie sich dazu überreden, noch am Abend oder in der Nacht los zu fahren. Das wäre das Beste.
Entgegen seiner Gewohnheit verwandte er keine große Sorgfalt auf die Auswahl seiner Kleidung, als er sich daran machte, den Koffer zu packen. Da es nach wie vor sommerlich warm war, würde er ohnehin nicht viel brauchen, höchstens zusätzlich noch einen Pullover und eine wetterfeste Jacke für abendliche Strandspaziergänge. Die Vision, irgendwo am Meer entlang zu laufen und an gar nichts mehr denken zu müssen, hatte etwas derart Verlockendes, dass er die Ungeduld danach fast körperlich wahrzunehmen glaubte.
Er ließ in allen Räumen die Jalousien herunter, vergewisserte sich, dass nirgendwo Licht brannte oder ein Wasserhahn tropfte, zog die Stecker aller elektrischen Geräte bis auf den des Kühlschranks heraus und überwand sich dazu, doch noch den Anrufbeantworter abzuhören. Die Autowerkstatt hatte sich zwei Mal gemeldet. Nein, er würde dort jetzt nicht vorbeischauen, sagte er sich noch einmal, sollten sie dort doch denken, was sie wollten. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, atmete er tief durch und beeilte sich, aus dem Haus zu kommen, um bloß nicht Bergheim noch einmal zu begegnen.
Erneut fuhr er durch die Kolbestraße, aber diesmal mit voller Absicht. Als er noch ungefähr hundert Meter von dem Haus entfernt war, kamen gerade zwei Männer heraus und stiegen in den Opel. Der eine war dünn und fast einen Kopf größer als der andere, der eine etwas gedrungene Statur hatte. Beide trugen Anzüge in ähnlichem Grau wie dem ihres Wagens.
Er fuhr daran in gemessenem Tempo vorüber und wagte kaum zur Seite zu schauen. Als er im Rückspiegel sah, wie der graue Wagen anfuhr, beschleunigte er.
28.
Eva hielt nichts davon, noch am Abend loszufahren, “überhaupt gar nichts”, wie sie ihm erklärte, sichtlich irritiert und sogar ein wenig ungehalten. Ganz im Gegenteil sei zu überlegen, ob sie die Abreise nicht um einen Tag verschieben sollten, fand sie ihrerseits. Doch dagegen erhob er so energischen Protest, dass sie gleich einlenkte, ohne allerdings von ihrer Forderung abzurücken, er müsse sich erst noch einmal ausschlafen, was für sie selbst übrigens auch gelte.
“ Schau dich doch mal an”, sagte sie. “Du siehst immer noch richtig mitgenommen aus, fast so, als hättest du irgendetwas in den Knochen. Weshalb hast du dich heute nicht einfach noch ein paar Stunden ins Bett gelegt? Das hast du doch
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