Die Frau an Seiner Seite
Störungen in der Regel nicht erst zwischen dem 50. und dem 60. Lebensjahr auftreten, sondern sich schon früh manifestieren – während der Kindheit oder unmittelbar nach der Geburt. Bei Hannelore war das nicht der Fall. Auch die von ihr beschriebenen Symptome, wie starkes innerliches Brennen oder Schmerzen in den Schleimhäuten, verwiesen nicht zwingend auf eine lichtindizierte Erkrankung. Wenn eine so schwere Lichtreaktion bestanden hätte, wie Hannelore stets behauptete, hätte sie grundsätzlich Probleme mit Licht haben müssen – auch während der Dämmerung.
Nach Meinung von Ärzten, die es wissen mussten, sprach sehr viel dafür, dass Hannelore Kohl an einer schweren Depression litt, möglicherweise verbunden mit der Wahnvorstellung, sie könne Licht nicht mehr vertragen. Wenn eine Depression mit Wahnvorstellungen einhergeht, spreche das für einen sehr schweren Verlauf, der in der Regel kaum behandelbar sei und häufig in einen Selbstmord münde. Man könne zwar Antidepressiva geben, müsse aber begleitend und über einen längeren Zeitraum massiv therapieren. Die Psychopharmaka nähmen Einfluss auf bestimmte Funktionen des zentralen Nervensystems und würden helfen, depressive Phasen zu mildern. Beheben können sie die Probleme hingegen nicht. Ein erster Schritt dazu sei es, dass der Patient seine depressive Erkrankung akzeptiert und sich dem stellt, das diese Erkrankung hervorgerufen hat.
Alle Bemühungen, Hannelore zu motivieren, einen Therapeuten aufzusuchen, waren sehr schwierig. Immerhin hatte sie vorübergehend Kontakt zu einem Heilpraktiker, der sich auf seinem Briefkopf mit einer Praxis für angewandte Psychologie, Energie und Therapie auswies. Dieser Mann im mittleren Alter tauchte öfters in Ludwigshafen auf, ohne Hannelore wirklich helfen zu können. Später war die Rede von einem Scharlatan, dem man aufgesessen sei.
Psychotherapeutische Gespräche zu führen, lehnte Hannelore lange Zeit mit dem Hinweis ab, als Frau des ehemaligen Bundeskanzlers könne sie keinem Menschen ihr Leben darlegen, ihre wahren Gefühle und Probleme offenbaren. Sie hatte eine nahezu panische Angst, zugeben zu müssen, psychisch krank zu sein. Sie wollte es vermutlich einfach nicht wahrhaben, dass sie an einer schweren Depression litt, die unabhängig von der Lichtallergie bestand und mit deren Auswirkungen nichts zu tun hatte. Alle Ärzte, die sie selbst in ganz vorsichtigen Erläuterungen und geradezu homöopathischen Dosierungen über alle denkbaren Aspekte ihrer Krankheit aufklären wollten, wurden nicht mehr gebraucht, nicht mehr konsultiert, aussortiert.
Unverdrossen hielt sie an ihrem Glauben fest, an einer schweren Lichtallergie zu leiden. Unterstützt von ihrem Hausarzt Professor Helmut Gillmann, seit 1963 Direktor der medizinischen Klinik Ludwigshafen, wurde sie mit Medikamenten behandelt, die ausschließlich die Symptome der Lichtallergie bekämpfen sollten. Das Hauptaugenmerk galt dabei ihrer Haut, doch für andere Fachleute war in dieser Situation klar, dass es nichts ausrichten, nicht helfen würde. Ein letzter Versuch, Hannelore von anderen Maßnahmen zu überzeugen, scheiterte ebenfalls. Ein weltweit bekannter Experte für Porphyrien, praktizierender Dermatologe in New York, sollte zur weiteren Behandlung hinzugezogen werden. Er war bereit, Hannelore umgehend zu untersuchen. Doch diesen weltweit anerkannten Experten ließ sie überhaupt nicht an sich heran. Offenbar fürchtete sie, dass auch der amerikanische Dermatologe die Untersuchungsergebnisse der deutschen Kollegen bestätigen würde. Und damit wäre das ganze Gebäude ihrer Krankengeschichte wie ein Kartenhaus endgültig zusammengebrochen.
In mehreren Telefonaten bis wenige Wochen vor ihrem Tod hatten ihr zwei zurate gezogene Ärzte immer wieder klargemacht, dass ohne eine psychiatrische Behandlung eine Verbesserung ihrer Lage nicht möglich sei. Am Ende war Hannelore wegen ihrer seelischen Erkrankung dem medizinischen Sachverstand und dem Denken von Ärzten nicht mehr zugänglich. Sie trennte sich von vielen Menschen, die nur das Beste für sie wollten, sie zog sich zurück in ihre eigene Welt. Diese Frau, die privat so witzig, lustig, fröhlich und selbstsicher, so schlagfertig und humorvoll sein konnte, hatte sich längst mit einer Mauer umgeben, hinter die niemand mehr schauen konnte. Im Laufe der Jahre war sie immer enger und höher geworden. So hoch, bis sie auch die engsten Freundinnen nicht mehr überwinden konnten.
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Helmut
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