Die Frau an Seiner Seite
Phase extremen Wachstums. Ende 1943 stieg die Zahl der Beschäftigten auf insgesamt 60 000 Personen. Der NS-Musterbetrieb war besonders gefordert, neue Waffensysteme mussten her. Für das Direktorium eine gewaltige Herausforderung und vor allem für den technischen Direktor Wilhelm Renner die Aufgabe seines Lebens.
Der Vertraute des Generaldirektors und fanatischen, mittlerweile zum SS-Obersturmbannführer beförderten Paul Budin war dabei, wenn auf höchster Ebene mit den Spitzen des Ministeriums für Bewaffnung und Munition über Auftragsvergaben verhandelt wurde. Der zu rücksichtsloser Härte neigende Wehrwirtschaftsführer Budin verfügte über beste Kontakte zur NS-Führung. So gehörte er dem berühmt-berüchtigten »Freundeskreis Reichsführer-SS« an, auch als »Freundeskreis Himmler« bekannt. Diese Vereinigung von etwa fünfzig hohen und höchsten SS- und SA-Mitgliedern dokumentierte die engen Beziehungen zwischen Großindustrie und NSDAP. Von der Machtübernahme an spendeten die Mitglieder jährlich rund 1 Million Reichsmark an Heinrich Himmler. Als Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei war Himmler einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der europäischen Juden und Roma sowie für zahlreiche weitere Verbrechen. Durch seine engen Verbindungen verfügte der HASAG-Generaldirektor und Renner-Förderer über streng vertrauliche Informationen, bestimmt auch über das, was in den deutschen Konzentrations- und Arbeitslagern geschah. Von seinem Herrschaftswissen profitierte sicherlich regelmäßig das gesamte Direktorium der HASAG, die zunehmend Probleme bekam, genügend Arbeitskräfte für ihre Betriebe zu rekrutieren. Diese heikle Aufgabe wurde Wilhelm Renner übertragen. Vermutlich war er wie andere Sozialdirektoren schon bald verantwortlich für die Beschaffung von Arbeitskräften aus verschiedenen Konzentrationslagern, darunter Ravensbrück, Buchenwald und Majdanek. Paul Budin hatte seinen technischen Direktor zusätzlich zum Direktor für Soziales berufen – eine Schlüsselstellung an der HASAG-Spitze.
Wilhelm Renner gehörte nicht zu den Leisetretern im Unternehmen. Mit klarem Verstand und äußerster Präzision unternahm er alles, um die HASAG zum Erfolg zu führen. Er war ein wichtiges Rädchen in der Rüstungsindustrie und stellte seine herausragenden ingenieurtechnischen Fähigkeiten, seine Intelligenz und unverwüstliche Arbeitskraft unumschränkt in den Dienst der Partei und ihrer verbrecherischen Kriegsziele. Solange das HASAG-Unternehmen genügend Waffen und Munition produzierte, solange würde sein Posten gesichert sein und solange konnte der Krieg fortgesetzt werden.
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Irene Renners Tagebucheinträge geben auch in der Zeit nach der Evakuierung verlässliche Auskünfte über die wichtigsten Daten im Leben von Mutter und Tochter. Die meist emotionslos notierten und kaum kommentierten Fakten sind zum Teil die einzigen Quellen über ihren Verbleib an den Evakuierungsorten, über Ankunft und Abreise in den wirren Jahren des Krieges. In den jeweiligen Einwohnermeldeämtern lassen sich dazu so gut wie keine Unterlagen finden. So existiert beispielsweise im Archiv der heutigen Großen Kreisstadt Grimma kein Beleg über den zehnwöchigen Aufenthalt der Renners 1943. Kaum jemandem der Evakuierten stand der Sinn danach, sich zwischen Bombenalarm, Tieffliegerangriffen und Nahrungsbeschaffung auf dem Rathaus registrieren zu lassen. Zumal für viele Betroffene mit der ersten Evakuierung eine langwierige Odyssee über viele Stationen begann. Auch Hannelore und ihre Mutter hatten sich kaum in der nordsächsischen Provinz eingelebt, als die Reise weiterging. Neues Ziel war das mittelsächsische Städtchen Döbeln, von Leipzig etwa 65 Kilometer entfernt und in der Mitte des Dreiecks Chemnitz, Dresden und Leipzig gelegen. In die damals über 25 000 Einwohner zählende Kleinstadt zogen Irene und Hannelore Renner laut Tagebucheintrag am 13. Februar 1944. Nach einigen Tagen in einer provisorischen Unterkunft fanden sie ein neues Zuhause in einer Einzimmerwohnung in der Zwingerstraße 11. Eine offizielle Registrierung im Einwohnermeldeamt lässt sich auch in dieser Stadt nicht nachweisen. Wichtigster Grund für den Umzug nach Döbeln war die Existenz einer weiterführenden Schule, die Hannelore besuchen sollte. Als erste »Maßnahme« meldete Irene Renner ihre Tochter an der »Staatlichen Oberschule für Jungen« an, einem humanistischen Gymnasium mit Latein und Englisch sowie
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