Die Frau aus Alexandria
unter der Moschee Nabi Daniel liegt, andere sagen, es befinde sich in der nahe gelegenen Nekropole.« Er lächelte entschuldigend. »Verzeihen Sie, wenn ich zu viel rede. Ich möchte meine Stadt mit jedem teilen, der sie mit freundschaftlichen Augen betrachtet. Sie müssen unbedingt die Gärten des Antoniades am Mahmudije-Kanal aufsuchen. Dort finden sich in jeder Hand voll Erde Spuren der Geschichte. Zum Beispiel hat der Dichter Kallimachos dort gelebt und gelehrt.« Er zuckte leicht mit den Achseln. »Außerdem gibt
es dort ein römisches Grab«, endete er mit einem Lächeln, als der Kellner an den Tisch trat.
»Sind Sie mit unseren Speisen vertraut?«, fragte Jakub.
»Nur wenig«, gab Pitt zu. Er war gern bereit, sich helfen zu lassen, denn zum einen war es praktisch, und zum anderen erfüllte er damit ein Gebot der Höflichkeit.
»In dem Fall schlage ich Muluchis vor«, sagte Jakub. »Das ist eine köstliche grüne Suppe, die Ihnen sicher schmecken wird. Danach Haman Maschi, gefüllte Täubchen.« Er sah Pitt fragend an.
»Wunderbar, gern«, stimmte dieser zu.
Bis das Essen kam, stellte Pitt noch einige Fragen über die Stadt. Als sie bei der wirklich köstlichen Suppe waren, kam Jakub schließlich auf den Grund ihres Zusammentreffens zu sprechen.
»Sie haben gesagt, dass sich Ayesha Sachari in Schwierigkeiten befindet«, sagte er, legte den Löffel einen Augenblick beiseite und sah Pitt aufmerksam an. Seine Stimme klang ungezwungen, als spräche er nach wie vor über die Schönheiten der Stadt, aber seinen Augen war die Anspannung anzusehen.
Da Alexandria über ein erstklassiges Telefonnetz verfügte, das bisweilen zuverlässiger funktionierte als das von London, hielt Pitt es für durchaus möglich, dass Jakub bereits von ihrer Festnahme und dem Tatvorwurf gegen sie gehört hatte. Er würde sehr vorsichtig sein müssen, denn keinesfalls durfte er sich bei einer Verdrehung der Tatsachen ertappen lassen und schon gar nicht bei einer offenen Lüge.
»Ich fürchte, ihre Lage ist ernst«, gab er zu. »Ich weiß nicht, ob sie Gelegenheit hatte, ihre Angehörigen zu verständigen oder ihnen möglicherweise Sorgen ersparen wollte. Doch wenn sie meine Tochter oder Schwester wäre, wüsste ich gern möglichst genau, worum es geht, damit ich überlegen könnte, wie sich ihr helfen lässt.«
Sofern Jakub etwas wusste, war das seinem Gesicht nicht anzusehen. »Gewiss«, murmelte er. Pitt hatte angenommen, er werde sich überrascht, wenn nicht gar beunruhigt darüber zeigen, dass sich Ayesha Sachari in Gefahr oder Schwierigkeiten befand, doch
das war nicht der Fall. War Jakub bereits auf anderem Wege über ihre Verhaftung im Bilde, oder hatte er aufgrund seiner Kenntnis ihrer Person mit einer solchen Möglichkeit gerechnet? Unwillkürlich musste er an Narraways Warnung denken, wobei ihn sogar in der erdrückenden Hitze des Restaurants ein kalter Schauer überlief. Jakub trat ihm so liebenswürdig und umgänglich gegenüber, dass er ohne weiteres hätte vergessen können, wie sehr dessen Interessen unter Umständen von seinen eigenen oder denen der britischen Regierung abwichen.
»Kennen Sie Miss Sacharis Angehörige?«, fragte Pitt.
Jakub hob in einer eleganten Bewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte, ganz leicht eine Schulter. »Ihre Mutter lebt schon lange nicht mehr, und ihr Vater ist vor drei oder vier Jahren gestorben«, gab er zur Antwort.
Überrascht stellte Pitt fest, dass er Mitgefühl empfand. »Und gibt es sonst jemanden? Geschwister?«
»Nein, sie hat niemanden«, gab Jakub zurück. »Sie war das einzige Kind. Vielleicht hat ihr Vater deshalb so sorgfältig darauf geachtet, dass sie eine gute Ausbildung bekam. Sie war seine liebste Gefährtin. Neben ihrer Muttersprache Arabisch spricht sie Französisch, Griechisch, Italienisch und natürlich auch Englisch. Wahrhaft geglänzt hat sie auf den Gebieten Philosophie und Geistesgeschichte.« Er spürte Pitts Erstaunen und sagte: »Ich weiß, dass man beim Anblick einer schönen Frau gewöhnlich denkt, sie habe nichts im Sinn, als anderen zu gefallen.«
Pitt öffnete den Mund, um das zu bestreiten, musste sich aber eingestehen, dass der Mann Recht hatte. Er merkte, wie er errötete, und schwieg.
»Anderen zu gefallen war ihr nicht besonders wichtig«, fuhr Jakub mit einem leichten Lächeln fort, das mehr in seinen Augen als auf den Lippen lag, und aß weiter, wobei er das Brot mit den Fingern brach. »Vielleicht war sie nicht darauf angewiesen, sich
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