Die Frau aus Alexandria
der Araber, die nicht nur Mohammeds Gesetz mit sich gebracht haben, sondern auch Kunst und Medizin, Astronomie und Architektur. Er war ein starker Charakter, und er verstand es, Menschen in seinen Bann zu schlagen.«
Pitt unterbrach ihn nicht. Er wusste nicht, ob all dies im Zusammenhang mit dem Mord an Edwin Lovat etwas zu bedeuten hatte oder ob Narraway auch nur einen Bruchteil davon würde verwenden können, aber es fesselte ihn, weil es Bestandteil der Geschichte dieser außergewöhnlichen Stadt war.
»Er besaß die Fähigkeit, Menschen die Augen für den Zauber des Mondscheins auf tausendjährigen Marmortrümmern zu öffnen«, fuhr Jakub fort und drehte sein Glas in den Fingern. »Er verstand es, das Leben und das Gelächter der Vergangenheit heraufzubeschwören, als wäre diese Zeit nie vorübergegangen, sondern einfach von Menschen, die nicht empfänglich dafür sind, eine Weile übersehen worden. Wer mit ihm sprach, sah die bunte Vielfalt der Welt und hörte die Musik in der Stimme des Windes, der über den Sand streicht. Der Geruch nach Schmutz und Abwässern, die Fliegen auf den Straßen und die Stechmücken waren nichts als der Atem des Lebens.«
»Und Miss Sachari?«, fragte Pitt. Er fürchtete sich vor der Antwort.
»Sie hat ihn geliebt«, sagte Jakub mit leicht herabgezogenem Mundwinkel. »Sie war jung, und Ehre bedeutete ihr alles. Sie liebte auch ihr Land, seine Geschichte, seine Ideen ebenso wie seine Menschen, und sie hasste die Armut, die der Grund dafür war, dass sie unwissend blieben und keine Möglichkeit hatten, Lesen und Schreiben zu lernen, dass sie krank waren, wo sie hätten gesund sein können.«
Pitt wartete. Die unterdrückte Empfindung in Jakubs Gesicht, der Schleier über seinen Augen sagten ihm, dass er mit seinem Bericht noch lange nicht am Ende war.
Jakub nahm den Faden wieder auf. Er hatte nur innegehalten, um seiner Bewegung Herr zu werden, die er nicht so offen auf seinem Gesicht zeigen wollte.
»Er war ein Mann von nahezu unendlichen Möglichkeiten«, sagte er sehr leise, »der zweifellos imstande gewesen wäre, dem Land seine Unabhängigkeit und finanzielle Selbstständigkeit zurückzugeben. Aber er hatte eine Schwäche – er war unfähig, seinen Angehörigen Nein zu sagen. Er hat seinen Söhnen und Brüdern Macht gegeben, und diese nutzten sie, um ihre Habgier zu befriedigen. Wer führen will, muss bereit sein, notfalls allein zu gehen. Das aber war er nicht.«
Er holte tief Luft und fuhr fort, das Glas in der Hand zu drehen. Dann hielt er inne, als wolle er daraus trinken, doch ließ er es stehen. Sein Gesicht wirkte angespannt, als liege darin ein unverheilter alter Schmerz. »Ayesha hat ihn geliebt, er aber hat sie und sein Volk verraten. Ich weiß nicht, ob sie sich danach je wieder rückhaltlos einem Mann geöffnet hat – möglicherweise diesem Ryerson?« Er hob die Augen und sah Pitt fragend an. »Wird auch er sie verraten?«
Pitt fragte sich, warum sie der Polizei nichts von all dem gesagt hatte. War sie innerlich abgestumpft, rechnete sie damit, dass sich die Geschichte wiederholte?
»Auf welche Weise?«, fragte er. »Indem er sie oder sein eigenes Volk verrät?«
Verstehen blitzte in Jakubs Augen auf. »Sie denken an die Baumwolle? Glauben Sie, sie ist nach London gegangen, um ihn zu überreden, dass er uns die Rohbaumwolle überlässt, damit wir selbst Gewebe herstellen können, statt sie nach Manchester zu verschiffen, wo englische Arbeitskräfte den Mehrwert erzeugen, sodass statt unser England reich wird? Möglich. Es würde mich freuen, wenn es so wäre.«
»In dem Fall hätte sie ihn aufgefordert, sich zwischen England und Ägypten zu entscheiden«, entgegnete Pitt, »womit er auf jeden Fall eine Seite verraten musste.«
»Sie haben Recht.« Jakub presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß nicht, ob sie ihm das verzeihen könnte.« Er nahm sein Glas wieder zur Hand. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Sie können nachforschen, so sehr Sie wollen – Sie werden feststellen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.«
»Und was ist mit Leutnant Lovat?«
Jakub machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts von Bedeutung. Er hat sich in sie verliebt. Vielleicht war sie damals so sehr verletzt, dass sie seine Aufmerksamkeit als lindernd empfunden hat. Die Sache hat nur wenige Monate gedauert. Dann wurde er nach England zurückbeordert. Ich nehme an, dass sie Erleichterung darüber empfunden hat – und er womöglich auch. Er hatte nicht die Absicht,
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