Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
erkrankte Renée an Angina. »Mein Chef in Verviers, er war Belgier, war von der Partei. Seine Frau war eine Deutsche, sie hatten sich 1936 kennengelernt. Die haben den Doktor geholt und ich bekam Medikamente. Es waren gute Medikamente, mir ging es schnell besser.«
Doch Renée musste zur Apotheke, um die Medikamente zu besorgen, und die Apothekerin fragte sie unfreundlich: »Sind Sie auch bei ›les Boches‹?« Renée war krank, angeschlagen und daher vielleicht besonders empfindlich, aber in Flandern hatten sie »so eine grimmige Atmosphäre wie in der Wallonie, in Lüttich und Verviers« nicht gekannt. Die Atmosphäre dort sei entspannt gewesen, Animositäten gegen Deutsche oder Belgier, die für Deutsche arbeiteten, hatte sie nicht erlebt. Doch bereits als die Deutschen 1940 einmarschierten, hatten die Einwohner von Verviers die Fenster und Türen verrammelt und die Eroberer mit Nichtachtung gestraft.
Eines Tages kam ihr Vorgesetzter aus Antwerpen, Herr Berthold, mit der Nachricht zu ihr, er habe ihren Bruder gesehen. »›Sie gehen heute Nacht. Sie versuchen, nach Hause zu flüchten‹. Der Deutsche wusste das. Ja, die waren vier Jahre bald hier, die kannten die Sprache. Und er sagte, ›wenn Sie mit zurück nach Antwerpen gehen und es ist noch nicht eingenommen, das wissen wir nicht, dann werden Sie doch noch nach Deutschland geschickt. Ich schlage vor, sie bleiben bei uns und wir passen auf.‹ Und das habe ich dann gemacht.«
Renées Bruder Paul schlug sich, zusammen mit anderen, drei, vier Tage lang zu Fuß nach Antwerpen durch. Das erfuhr Renée aber erst viel später, als sie wieder zuhause war. Der Weg von Paul war nicht ungefährlich. Im Falle, dass er geschnappt würde, konnte ihm, dem »Arbeitsunwilligen«, wegen Vertragsbruch zumindest die Berechtigung für Lebensmittelmarken entzogen werden, er konnte verhaftet oder umgehend ins Reich deportiert werden. Renée sagte, sie wäre vielleicht mit ihm gegangen, aber sie sei zu krank gewesen. Zu krank, um zu fliehen, würden wir heute sagen, doch Flucht wäre für Renée ein zu großes Wort, zu dramatisch. Sie sagte an anderer Stelle einmal, »ich war zu krank, um mich aus dem Staub zu machen«.
Doch es wäre Flucht gewesen und die würde, im Fall ihrer Entdeckung, geahndet. Herr Berthold hielt dicht. In anderen Fällen wie dem eines jungen Polen in Kotzenau hatten die Daimler-Benz-Verantwortlichen die Liste mit den Namen der Verpflichteten vorab an die Gendarmerie übergeben, und die suchte die Leute zusammen, die sich »aus dem Staub machen« wollten – mit allen erdenklichen Konsequenzen.
»Ich ging in Verviers in die Stadt und habe mir noch ein paar Kleider gekauft. Wir hatten Geld bekommen, Vorschuss. Ich kam vorbei an dem Lager von der Eisenbahn und da kam einer heraus,den ich kannte. »Ah, was machen Sie hier, sind Sie jetzt Eisenbahner?« »Nei,« sagt er, »wir müssen alles leer machen, die Eisenbahn geht nach Deutschland.« Das ganze Zeug ging weg, die wollten das nicht so den Amerikanern überlassen. Da sagte ich, »da kann ich auch gehen.« Fragte er: »Sind Sie Deutsche?« »Nei, aber ich arbeite bei Deutschen!«
Es sollte nicht lange dauern, dann trat das ein, was Renée in dem Moment allenfalls ahnte. Verviers wurde aufgegeben, auch der Osten Belgiens schien nicht mehr sicher. Der Front-Reparaturbetrieb sollte noch weiter nach Osten umziehen, ein Teil des Werkes war bereits nach Frankfurt am Main verlagert.
Im Reich
1944 wurde eine Vielzahl von Betrieben aus den von Luftangriffen bedrohten Zentren in sicherere Regionen des Reiches verlegt. Unter Aufbietung unglaublicher Kosten und Energien wurden ganze Rüstungsschmieden umgesiedelt. Werk- und Montagehallen inklusive aller Maschinen, aller Menschen wurden nicht selten unter Tage eingegraben, neu installiert in Eisenbahntunnels, aufgelassenen Stollen oder Bergwerken. Letztlich wurden unter unglaublichen Verlusten an Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen ganze Werke für wenige Monate, oft nur Wochen verlagert – dann war der Krieg vorbei.
Von unterirdischen Anlagen wussten die Frauen damals noch nichts. Sie erfuhren überhaupt wenig. Renée erinnert sich nicht mehr, wann ihnen das Ziel ihrer Reise schließlich unterbreitet wurde. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie definitiv noch nicht, wohin sie unterwegs waren.
Die Hallen in Verviers wurden wieder leer geräumt, alles erneut verladen. Ady musste sich wieder von Jupp verabschieden, der seinen Lkw mit seiner Fracht
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