Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
nach Osten steuern sollte.
In der Regel wurden die angeworbenen oder zwangsweise verschickten westeuropäischen Zivilarbeiter von Sammelbahnhöfen aus mit Sonderzügen nach Deutschland gebracht, wo sie bis zur Verteilung auf die Arbeitsamtsbezirke in Durchgangslagern einquartiert wurden. Die Westarbeiter fuhren zumeist in normalen Personenzügen – anders als die polnischen Arbeitskräfte oder »Ostarbeiter«, die in Güterwaggons transportiert wurden.
Die Frauen aus Antwerpen reisten ab Verviers mit normalen Personenzügen. Das Equipment wurde getrennt von ihnen transportiert.
In Adys Nachlass lag zwischen den Papieren ein Zettel mit einer Liste von Ortsnamen. Manche Namen waren nur schwer zu entziffern, andere waren ihr offensichtlich fremd, sie hat sie falsch geschrieben, damit waren sie für mich anfangs nicht entzifferbar. Erst nach und nach ergaben die Namen einen Sinn – sie spiegelten die Route wieder, auf der die Frauen durch das kriegszerstörte Reich nach Osten fuhren. Immer tiefer ins Reich.
Auf der Rückseite eines Briefes notierte Ady nach dem Krieg die Stationen ihrer Reise. Im Sommer 1944 ahnt sie nicht, welche Odyssee noch vor ihr liegt.
In Herbesthal überquerten sie die Grenze, dann waren sie im Land der Sieger. Was mag in den Frauen vorgegangen sein? Damals waren junge Mädchen, junge Frauen nicht so selbstverständlich allein unterwegs, wie wir das heute gewöhnt sind. Ady war immerhin schon über dreißig, Renée und einige der anderen jedoch erst etwa zwanzig Jahre alt. Es sollte sich zwar herausstellen, dass Renée die kompetentere, pragmatischere war, jedoch war sie genauso wenig wie die anderen bisher ohne Begleitung ihrer Eltern, ihres Bruders oder von Verwandten verreist gewesen. Nun reisten sie nicht allein, sie waren eine Gruppe von sieben jungen Frauen, sowohl aus der Wallonie als auch aus Flandern, unter ihnen Renée und Ady. Sie wurden der Obhut eines Daimler-Mitarbeiters anvertraut, Willy Esmajor aus Aachen. Er sollte auf sie Acht geben – im doppelten Wortsinn. Renées Bruder und seine Kumpane waren bereits abgehauen und das sollte sich nicht wiederholen. Und zugleich standen die Daimler-Chefs von Mortsel bei den flämischen Frauen im Wort, dass sie, sollten sie mit nach Deutschland gehen, auf sie aufpassen würden.
Bei Herbesthal nahe Eupen verlief die Grenze nach Deutschland. Der Ort ist eng mit der europäischen Geschichte und der Eisenbahn verbunden. Auf der Strecke von Antwerpen nach Köln war Herbesthal mit dem Bau der Eisenbahnlinie im 19. Jahrhundert zum ersten Grenzbahnhof Europas geworden.
Das Leben im Krieg war keiner der Frauen neu, Hunger und Lebensmittel auf Marken, nächtliche Verdunkelungen und Luftangriffe, Angst vor Gestapo und der SS – all das kannten sie seit Jahren. Aber nun waren sie auf unbekanntem Terrain.
Ihre erste Station nach der Grenze ist Aachen. Durch die Grenzstadt waren Zehntausende, die in Belgien interniert waren, transportiert worden, um von hier aus mit der Reichsbahn in die KZs gebracht zu werden.
Aachen ist bereits stark zerstört. Willy Esmajor macht sich zusammen mit den sieben belgischen Frauen auf den Weg zu seiner Frau. Viele Einwohner sind bereits aus der Stadt geflüchtet, Willy will seine Frau abholen, sie bei sich haben, sie mitnehmen. In der Wohnung von Käthe Esmajor machen sie es sich für die Nacht auf dem Fußboden bequem.
Aachen wurde bald darauf zwangsevakuiert und am 21. Oktober, nach sechswöchigem Kampf, als erste deutsche Stadt von den Alliierten eingenommen. Doch da sind die Frauen und ihr Begleiter längst nicht mehr da.
Bereits am nächsten Tag besteigen sie den Zug nach Frankfurt am Main. Sie sind nun, Käthe inklusive, acht junge Frauen und Willy. »Willy und sein Harem«, Renée lachte, als sie mir davon erzählte.
Maria, 1942.
Die Frauen richten sich so bequem wie möglich ein, unterhalten sich, spielen Ratespiele. Nur wenn sie zusammen singen, in ihrer Sprache, bemerken sie die Blicke der anderen Reisenden. Willy und Käthe bringen ihnen deutsche Lieder bei, alle wollen dabei nicht mitmachen. Renée erinnerte sich, dass es während der Reise bald Grüppchenbildung und Reibungen gab. Die Fläminnen und Walloninnen waren sich nicht unbedingt grün.
Renée denkt an zuhause, an ihren Bruder, Ady an Maria. Während sie durch Deutschland fahren, befinden sich die deutschen Truppen bereits auf dem schnellen Rückzug aus Nordfrankreich. Ende August sollten die Alliierten Paris einnehmen. Dennoch hält
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