Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Kreatur erregte die Aufmerksamkeit ihrer
Rudelgenossen. Wie Raubtiere witterten sie, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte.
Es traf sie nicht unvorbereitet. Seit zwei Jahren richtete sich ihre hyänenhafte Aufmerksamkeit auf das prunkvolle Bürgerhaus,
in dem der alte Mann mit seiner schönen jungen Frau lebte. Wie Schnaken sich mit Blut vollsaugen, hatten diese Beobachter
sich seit Monaten mit Klatsch und Tratsch vollgesogen, immer ungeduldiger darauf wartend, dass die Spannung sich in einer
Katastrophe löste. Es war ihnen nicht entgangen, dass es dem Apotheker zusehends schlechter ging, dass er sich immer seltener
auf der Straße blicken ließ, bis er vor einem Monat gänzlich in seinem Haus verschwunden war. Boshafte Gerüchte machten die
Runde. Argwöhnische Blicke folgten dem Privatsekretär, wenn er mit seinen langen Schritten und selbstbewusst erhobenem Kopf
die Straße entlang eilte, und dem eleganten Oberleutnant, der sich so verdächtig oft im Löwenhaus aufhielt, obwohl er doch
seine eigene Wohnung in
der Villa seiner Mutter hatte. Nicht einmal der unnahbare Provisor blieb von dem Getuschel verschont, obwohl er verheiratet
war.
Das Erscheinen der verstörten Zofe wirkte wie ein Magnet in einem Haufen Eisenfeilspäne. Passanten zögerten und verhielten
schließlich den Schritt. Aufmerksame Augen spähten aus den Fenstern der nächstgelegenen Häuser hervor.
Das Mädchen ließ Mantel und Koffer fallen, sog sich die Lungen voll und plärrte los.
»Tot! Der gnädige Herr ist tot! Er hat sich umgebracht! Und schuld an allem ist sie, diese rothaarige Hexe!«
»Daraufhin«, fuhr Louise fort, »hat man mich verhaftet.« Ihre erst so brüchige Stimme wurde allmählich kräftiger. »Und dann
kam dieser Kriminalbeamte ins Untersuchungsgefängnis und sagte, die Obduktion habe ergeben, dass Raoul mit Blei vergiftet
worden sei. Ich kann das kaum glauben. Dr. Thurner und auch der Nervenspezialist sagten, die Veränderungen in seinem Aussehen und seinem Wesen seien auf eine Austrocknung
des Gehirns zurückzuführen. Meinen Sie nicht auch, dass das viel wahrscheinlicher ist?«
Lady Amy zuckte die Achseln. »I haven’t got a clue. Das muss ein Arzt diagnostizieren.« Sie fuhr mit ihrer frischen, energischen
Stimme fort: »Don’t worry, my dear! Wir bekommen das in den Griff. Man soll nur versuchen, uns einzuschüchtern! Ich begleite
Sie jetzt nach Hause, Sie schlafen sich einmal gründlich aus, und morgen machen wir uns mit frischen Kräften ans Werk.«
Amy stand auf, rief den Kellner und bezahlte für beide. Gleich darauf hatte sie Louise, der allmählich schwindlig wurde, auch
schon wieder untergehakt und steuerte mit ihr auf eine Droschke zu.
3
Feiner Regen rann über die Scheiben. Er schlug Tausende winzige Krater in das ruhige Wasser der Binnenalster, von der schwacher
Nebel aufstieg. Ein paar Kähne dümpelten trostlos an ihren Anlegestellen. Von den kunstvoll geschmiedeten Kandelabern entlang
der Gehsteige, die wie eiserne Bäume aus dem Pflaster sprossen, tropfte das Wasser.
Ein Gefühl tödlicher Einsamkeit überschwemmte die junge Frau. So widerwärtig verändert Raoul in letzter Zeit auch gewesen
war, so war er doch ihr einziger Halt gewesen. Er hatte sie beschützt und verteidigt, hatte die Wölfe ferngehalten, die sich
jetzt um sie drängten. Emil, der es nicht erwarten konnte, seinen Onkel zu beerben. Sigmund Schlesinger, der die Apotheke
praktisch schon als sein Eigentum betrachtete. Fräulein Paula, deren Hoffnungen auf eine Ehe mit dem reichen Apotheker seinerzeit
bitter enttäuscht worden waren und die die Rivalin von Herzen hasste. Die Dienstboten, die Louise niemals wirklich respektiert
hatten. Am liebsten wäre sie auf der Stelle aufgesprungen und davongerannt, aber sie musste aushalten, musste all die Formalitäten
und Vorbereitungen bis zum Begräbnis durchstehen, ehe sie fliehen durfte. Aber wohin konnte sie denn überhaupt fliehen?
Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie die Finger ineinander verschränken musste, damit es nicht auffiel. War sie selbst
an diesem Unheil schuld? Hatte ihr böser Wunsch sich erfüllt? Nein, das war nur dummer Aberglaube! Aber sie hatte sich gewünscht,
dass er sterben möge, und nun war es geschehen.
Als die Droschke vor dem Löwenhaus hielt, blickte sie zudem schmalen Fenster hinauf, hinter dem sich das Badezimmer befand. Wie war dieser Tag schrecklich gewesen! Und alles, was
ihr Leben
Weitere Kostenlose Bücher