Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
krank? Ist dir etwas zugestoßen?«
Louise brachte nur mit Mühe die Worte hervor. »Nein, ist schon gut. Lass mich allein.«
Die fürsorgliche Amy aber dachte gar nicht daran. Sie sah es als ihre Pflicht, Louise zu beschützen und zu bemuttern, und
so führte sie die Freundin hinauf in ihre Wohnung, brachte ihr Tee und Kölnisch Wasser und nötigte sie, sich aufs Sofa zu
legen, und während all dieser Verrichtungen überredete sie Louise, ihr zu erzählen, was denn geschehen sei.
Schließlich blieb dieser nichts anderes übrig, obwohl Amy im Augenblick der letzte Mensch war, dem sie ihren Jammer anvertrauen
wollte. Ihr graute bei dem Gedanken, dass die Freundin ihr als Erstes ein triumphierendes »Ich hab’s dir ja gesagt!« entgegenschleudern
könnte.
»Hör zu«, sagte sie und setzte sich auf. »Es ist etwas passiert. Etwas Schlimmes. Ich werde es dir erzählen, weil du es sowieso
erfährst, aber ich bitte dich, gib keine Kommentare dazu ab.« Sie machte eine kurze Pause und sah der Freundin tief in die
Augen. »Frederick ist verhaftet worden.«
Amy schluckte und schaffte es gerade noch, zu schweigen. Ihre Augen jedoch blitzten vor Genugtuung.
Louise erzählte, was sich im Stadthaus abgespielt hatte. Sie schloss ihren Bericht mit den Worten: »Ich werde mich sofort
an Dr. Taffert wenden. Er muss ihm helfen.«
Amy hielt es nicht länger aus. »Bist du verrückt?«, rief sie. »Sei froh, dass du den Verbrecher los bist! Du willst dich doch
nach alledem nicht weiter mit ihm abgeben? Ein Mensch, der die Toten bestiehlt!«
»Er hat das nicht aus Habgier getan, sondern um ein neuesLeben anzufangen. Das zeugt von Mut, nicht von verbrecherischen Charakterzügen.«
»Tatsächlich? Ich würde sagen, er hat es getan, um sich in gesellschaftliche Kreise einzuschleichen, in denen er nichts verloren
hat.«
Louise setzte sich auf und schob das Teetablett beiseite. Der eisige Schrecken, der sie umklammert hatte, machte heißem Zorn
Platz. »So siehst du das? Plötzlich wirst du elitär? Dann sollte eine Küchenmagd wohl auch eine Küchenmagd bleiben und nicht
daran denken, Lesen und Schreiben zu lernen?«
»Das ist etwas anderes.« Amy lief im Zimmer auf und ab, außer sich vor Erregung. »Ich bin absolut dafür, dass die niederen
Schichten sich bilden. Aber Hansen hat sich diese Bildung auf kriminellem Wege erschlichen. Ich bitte dich, Louise, er ist
in diese Villa eingebrochen, hat alles gestohlen, was er zu fassen bekam.«
»Die Eigentümer waren tot. Warum bist du plötzlich so gesetzestreu? Wo es um die Frauensache geht, kannst du es rechtfertigen,
wenn Gesetze bewusst überschritten oder gar ignoriert werden, aber wenn ein Mann einen harmlosen Schwindel …«
»Ich fasse es nicht!«, schrie Amy. »Du bist diesem Unhold mit Haut und Haar verfallen. Harmloser Schwindel nennst du das.
Ein schweres, widerliches Verbrechen hat er begangen.«
»Unsinn! Ich finde es sehr tapfer, dass er gewagt hat, sich der Gefahr einer Cholerainfektion auszusetzen und in diesem Seuchenspital
zu arbeiten. Nachts in die leere Villa einzusteigen … und sich unter falschem Namen im Gymnasium einzuschreiben … Es war kühn und verwegen, seine Chance auf solche Art zu nutzen. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Er schien mir immer
so brav, folgsam und geduldig, ja zuweilensogar ein wenig naiv. Dass er so wagemutig sein kann, finde ich faszinierend. Um ehrlich zu sein: Ich bin stolz auf ihn!«
»Louise, er ist ein Verbrecher!« Amys Befriedigung darüber, ihren Erzfeind endlich als den Schurken entlarvt zu sehen, der
er in ihren Augen immer gewesen war, ließ allmählich nach und machte der Sorge um die Freundin Platz. Sie war ehrlich bestürzt.
Welche unheimliche Macht hatten die Männer doch über viele Frauen!
»Ach was, Verbrecher!«, rief Louise und sprang vom Sofa auf. »Er hat niemandem geschadet. Er hat diese Leute nicht bestohlen
oder betrogen. Sie waren tot. Wie heißt es so schön: Wo kein Kläger, da kein Richter. Hätte Raoul ihn als Verbrecher angesehen,
hätte er ihn auf der Stelle rausgeworfen. Vielleicht nicht angezeigt, aber rausgeworfen. Und wenn mein Mann nichts Schlimmes
an ihm gefunden hat, warum sollte ich es dann tun?«
Amy rang in theatralischer Verzweiflung die Hände. »Die ganze Zeit hat er dir etwas vorgespielt, und du glaubst ihm immer
noch? Meine Güte, bist du blauäugig! Dich muss man ja vor dir selbst schützen.« Sie eilte herbei, als
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