Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
jemanden, der bereits 1892 gestorben
ist.«
Frederick stieß einen erstickten Schrei aus und wurde aschfahl. Er machte eine Bewegung, als wollte er aufspringen und fliehen,
aber Kriminalpolizeiinspektor Gützlow war schneller; seine breiten Schultern blockierten den Fluchtweg. Der junge Mann wich
zurück und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Er wusste, dass es keinen Ausweg für ihn gab.
»Nun?«, fragte der Polizeirat, während er wiederum hinterseinem Schreibtisch Platz nahm. »Da Sie gesund und munter sind und folglich nicht der tote Frederick Hansen sein können, wer
also sind Sie wirklich?«
Der entlarvte Lügner starrte ihn an. Er zitterte am ganzen Leib. Dann ließ er plötzlich ein heiseres Lachen hören. »Das wüsste
ich selbst gerne.«
»Sie kennen Ihre eigene Identität nicht?«, fragte Heidegast überrascht.
»Nein.« Frederick atmete tief durch, ehe er fortfuhr: »Ich heiße vermutlich Fedor, das ist alles, was ich jemals über mich
erfahren habe. Ich wurde als Zweijähriger in den Eppendorfer Auswandererbaracken gefunden. Wahrscheinlich hatten mich meine
Eltern dort ausgesetzt, um ihr neues Leben unbelastet von einem Kleinkind beginnen zu können. Auf meinem Hemd fand sich mit
Tintenstift geschrieben der Name Fedor, aber ich weiß nicht einmal, ob das wirklich mein Name ist. Vielleicht hatte der Vermerk
auch gar nichts mit mir zu tun. Jedenfalls wurde ich bei einer Familie im Gängeviertel in Pflege gegeben, die für Geld Kinder
aufnahm – und ihnen als Erziehung Prügel, Hunger und die Ausbildung zum Verbrecher angedeihen ließ. Mit zehn Jahren bin ich
von dort davongelaufen und habe mich auf den Straßen herumgetrieben, war Hilfsarbeiter, Bettler, Dieb, alles für ein Stück
Brot und ein Glas Bier. Es machte mir keine Freude, aber ich sah keinen anderen Weg, zu überleben.« Er neigte den Kopf beschämt
zu Boden, und aus den Augenwinkeln blickte er Louise an. »Das ging so, bis ich sechzehn Jahre alt war. In diesem Jahr 1892
brach die Cholera-Epidemie aus. – Kann ich ein Glas Wasser haben? Mir ist übel.«
Gützlow stellte ein Glas Wasser und einen doppelten Korn vor ihn hin. Beides half, der junge Mann fuhr um vieles ruhigerfort: »Damals wurde jeder gebraucht, der ein Paar tüchtige Hände und keine Angst vor der Seuche hatte. Ich arbeitete im Eppendorfer
Krankenhaus. Dort war es meine Aufgabe, die Papiere und Effekten der Verstorbenen einzusammeln, alles in nummerierte Bündel
zu packen und in einer Kammer abzulegen, damit man später, wenn das Chaos vorüber war, genau feststellen konnte, wer als verstorben
registriert werden musste. Eines Tages war unter den Leichen, die ich zu besorgen hatte, die eines jungen Mannes, dessen Äußeres
eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem meinen hatte. Sein Name war Frederick Hansen. Er hatte gute Kleidung getragen, sah
gepflegt und anständig aus. In dem Augenblick erkannte ich einen Fluchtweg aus meinem elenden Leben. Statt sie im Archiv abzulegen,
behielt ich seine Papiere, ebenso den Ring und das Medaillon, das er getragen hatte.« Er warf trotzig den Kopf zurück. »Warum
auch nicht? Was konnte es ihm noch ausmachen? Sein Tod würde mir ein ganz neues Leben eröffnen.«
»Das Sie gleich als Leichenfledderer begannen«, kommentierte Heidegast.
»Wenn Sie am Verhungern wären und ein Toter hätte Fleisch und Brot und Wein in der Tasche, würden Sie es ihm eher ins Grab
mitgeben, als es selbst zu essen? Aber da Sie mich ohnehin für einen Verbrecher halten, hören Sie mein nächstes Verbrechen!
Ich hatte seine Adresse, also sah ich mir das Haus an, in dem er mit seinen Eltern gewohnt hatte, eine Villa am Stadtrand,
und fand es völlig verlassen. Anzeichen ließen erkennen, dass die gesamte Familie ins Krankenhaus gebracht worden und dort
verstorben war. In der nächsten Nacht brach ich ein und durchsuchte alles. Ich nahm die Dokumente der Familie mit, sämtliches
Geld im Haus und,was mir am wichtigsten war, die Unterlagen, die Frederick als Sohn eines angesehenen Kapitäns und als Gymnasiasten auswiesen.
Als die Seuche schließlich erlosch und alles wieder seinen normalen Gang ging, studierte ich an seiner Stelle weiter, allerdings
weit fort von Hamburg an einem Berliner Gymnasium. Ich schloss erfolgreich ab, bekam ein Stipendium und ging zwei Jahre auf
eine kaufmännische Schule. Nie fiel es irgendjemandem ein, meine Identität in Zweifel zu ziehen, aber damals war ja auch
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