Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
der Luxus in den Schaufenstern war für die meisten Bürger unerschwinglich. Leider war die Kleidung, die
nach der herrschenden Mode für eine reiche Bürgersfrau als angemessen galt, äußerst unbequem. Es konnte doch nichtgesund sein, seine Taille ständig so eng zu schnüren! Zuerst musste man unzählige Haken und Ösen schließen, dann folgten etliche
Unterröcke, Polsterungen und korbartige Gestelle für Busen und Gesäß und erst zum Schluss das eigentliche Kleid mit Rüschen,
Volants und Draperien. Louise hatte oft das Gefühl gehabt, eher in einem solchen Kleid zu wohnen, als es zu tragen. Sie fühlte
sich einer Bühnenfigur ähnlicher als einer lebendigen Frau und hätte sich gerne bequemer gekleidet. Aber ihr bejahrter und
konservativer Gatte hatte von den neuerdings in Mode gekommenen Reformkleidern, die er als Mehlsäcke bezeichnete, nichts wissen
wollen. »Wenn du einmal tot bist und begraben wirst«, hatte er gesagt, »ziehen sie dir ohnehin so etwas an, aber im Leben
sollst du ordentlich gekleidet sein.«
Der Gedanke fuhr ihr durch den Kopf, dass sie jetzt auch von dieser Bevormundung frei war. Sie konnte sich anziehen, wie sie
wollte. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Würde das herrlich sein, sich leicht und ungehindert zu bewegen, tief atmen zu
dürfen, nicht mehr ständig irgendwo zu streifen! Dann überkam sie das schlechte Gewissen, weil sie sich erleichtert fühlte,
dass sie jetzt Raouls Willen zuwiderhandeln durfte. Sie beschäftigte sich hastig wieder mit all den Häkchen und Schleifen.
Frederick war im Morgengrauen diskret aus dem gemeinsamen Lager verschwunden, aber Louise machte sich keine Illusionen: Die
gesamte Dienerschaft wusste Bescheid. Und bestrafte sie mit Verachtung. Das Mädchen Anke hatte wie üblich ein Tablett mit
Kaffee und Hörnchen auf den Beistelltisch vor der Tür gestellt und dann die schlafende Herrin durch ein Pochen geweckt. Der
Kaffee war lauwarm und hatte eine schleimige Haut, die Hörnchen waren zerkrümelt.
Louise ließ das Tablett auf dem Tisch stehen – sollte Anke ruhig merken, dass ihre Herrin ein solches Verhalten der Angestellten
nicht duldete. Rasch wandte sie sich ab, denn bei dem Anblick spürte sie ein Würgen. Aber war es der unappetitliche Anblick,
der ihr diese morgendliche Übelkeit verursachte, oder war es – oh weh! So schnell konnte das doch nicht kommen, oder? Und
ein Ziehen im Unterleib spürte sie auch. Nun ja, ihr Körper war in keiner Weise vorbereitet gewesen auf derart heftige Stürme,
das mochte der Grund sein. Aber vielleicht – vielleicht war sie tatsächlich schwanger?
Sie presste die flache Hand auf den Bauch und atmete ein paarmal tief durch. Das Kneifen und die Übelkeit ließen nach.
Louise stieg in den ersten Stock hinunter. Sie öffnete die Tür des ehelichen Schlafzimmers und spähte hinein. Der süße Duft
von Treibhausblumen schlug ihr aus dem Halbdunkel entgegen. Die Nonnen waren noch da, müde von der Nachtwache, aber unbeirrbar
im Gebet. Sie blickten kurz auf, als Louise sie begrüßte und flüsternd fragte, ob sie schon Frühstück bekommen hätten. Sie
verneinten, sagten aber, sie würden ohnehin gleich von vier neuen Schwestern abgelöst.
Die junge Frau schlüpfte aus dem halbdunklen, von Weihrauch und Kerzenrauch stickigen Raum und blieb auf dem Treppenabsatz
stehen. Der Geruch des Todes legte sich wie Mehltau auf ihre Sinne. Sie atmete tief durch und strich ihr Haar zurecht. Obwohl
sie das dumpfe Zimmer hinter sich gelassen hatte, wurde das Gefühl, sich in einer Gruft zu befinden, nicht geringer. Mit einem
Seufzer dachte sie an die behagliche Wohnung über der Apotheke, die seit Jahren schon leer stand. Sie war für den Provisor
gedacht, der oft bis tief in die Nacht arbeiten oder schon im Morgengrauen dieLieferanten empfangen musste, und wurde daher die Magisterwohnung genannt. Aber Schlesinger und seine junge Frau hatten bereits
eine Wohnung im Haus der Schwiegereltern und wollten nicht ausziehen. Lieber fuhr er bei Nacht und Nebel mit seinem Einspänner
nach Hause.
Anfangs war Louise von dem riesigen, prunkvoll ausgestatteten Haus begeistert gewesen, einem Haus, in dem ein weiser und fröhlicher
Hausherr den Ton angab. Aber in den Monaten von Raouls Krankheit hatte sie es hassen gelernt. Es gab keine Kammermusikabende
mehr, keine Geburtstags- und Weihnachtsfeste. Das bis dahin zahlreiche Personal war beträchtlich geschrumpft, weil Raoul die
Leute
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