Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Emil brauchte das Geld. Er brauchte jede Goldmark, die er kriegen konnte. Wenn der Alte ihn wirklich enterbt
hatte, was dann? Spielschulden waren Ehrenschulden. Wenn er sie nicht bezahlte, konnte er sich unter den Kameraden nicht mehr
blicken
lassen, und seine Freunde in der kaiserlichen Armee waren die einzigen Freunde, die er überhaupt hatte. Ein Rudel Soldaten,
so liederlich wie er selber, die jede dienstfreie Minute bei Suff und Spiel verbrachten. Er konnte es sich nicht leisten,
ihre Freundschaft, so wenig sie auch wert war, zu verlieren.
Das Gebäude, vor dem die Droschke schließlich anhielt, stand am entfernten Ende eines rechteckigen Gartens und machte einen
ebenso bombastischen wie verwahrlosten Eindruck. Die Adresse war überwältigend vornehm, aber dahinter verbarg sich ein ungeheizter,
schimmelnder Steinkasten mit höhlenartigen Zimmern, in denen stellenweise der Putz von der Decke fiel.
»Wir sind da.« Der Kutscher war abgestiegen und öffnete den Wagenschlag.
Emil bezahlte und trat durch das stets halb offen stehende, schmiedeeiserne Tor. Ein nasser Kiesweg führte zwischen Immergrünhecken
zum Haupteingang des Hauses. Ehemals war es weiß getüncht gewesen. Jetzt hatte es einen Farbton wie schmutzige Laken, und
wenn man sich aus dem geheizten Bereich entfernte, roch es auch so. Dunkle Adern zeichneten sich auf seiner bleichen Haut
ab, wo die Nässe sich ins Mauerwerk gefressen hatte. Ein Haus erhielt sich nicht von selbst, es musste ständig renoviert und
instand gehalten werden, sonst nisteten sich Mauerfraß und Holzwurm ein, und das kostete Geld, das weder Frau Hermine noch
ihr Sohn hatten. Raoul hatte seiner Schwester die Heirat mit dem Baron von Pritz-Toggenau, die er als dummen Streich betrachtete,
nicht verziehen und ihr klipp und klar erklärt, da sie ja einen Mann habe, solle dieser sie erhalten. Wäre da nicht die adelige
Familie gewesen, die Sohn und Schwiegertochter unterstützte, so hätte sie mit einem viel bescheideneren Domizil vorliebnehmen
müssen, denn vom Baron war nichts zu erwarten, und der Sold eines Offiziers reichte zum Leben, zu mehr aber nicht.
Emil sperrte die Tür auf und trat in die kreisrunde, zwei Stockwerke hohe Halle. Er schnaubte und schauderte, als er seinen
vom Nebel durchfeuchteten Offiziersmantel abnahm, sich das nasse Haar zurückstrich und zum Kamin eilte, wo er sich über dem
Feuer die Hände rieb.
»Emil? Bist du das?«, rief eine heisere Frauenstimme.
»Ja, Mutter.«
Oben an der Treppe erschien die Baronin. Ihre formidable Fülle war in kardinalroten Schantung gewickelt, dessen Schleppe hinter
ihr herrauschte wie die Heckwelle eines Ozeandampfers. Wie so viele Menschen, die mehr scheinen wollen, als sie sind, neigte
sie zu Übertreibungen und war dem Personal mehr als einmal Anlass zu Gepruste und Gekicher hinter vorgehaltener Hand, wenn
sie zum Frühstück in einer Aufmachung erschien, die eher einem Opernbesuch angemessen gewesen wäre.
»Onkel Raoul ist tot«, sagte er. »Hat sich umgebracht.«
Hermine nahm die Nachricht vom Tod ihres Bruders gelassen auf. »Nun, Gott hab ihn selig, er hatte nicht mehr viel Spaß am
Leben und ist besser aufgehoben, wo er jetzt ist.«
Emil zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch langsam in die Luft, ehe er die zweite wichtige Nachricht verkündete.
»Er hat so eine Art Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er behauptete, er werde vergiftet und könne deshalb das Leben nicht
länger ertragen. Daraufhin hat die Polizei Louise verhaftet.«
Die halbdunkle Treppe herunter raschelte etwas von flatternden Tüllschleiern umwehtes Weißes wie ein Gespenst, das sich aber
als schöne junge Frau von knapp neunzehn Jahren entpuppte – Emils jüngere Schwester Eugenie. Sie hatte das Beste von beiden
Elternteilen geerbt, den hohen Wuchs vom Vater, das rabenschwarze Haar und die eisblauen Augen von der Mutter, und hätte sie
nur ein klein wenig Geld in die Ehe mitbringen können, so wäre sie
eine der besten Partien von Hamburg gewesen. »Oh Emil«, rief sie, während sie sich gefährlich weit übers Geländer beugte,
»weißt du schon, ob er uns etwas hinterlassen hat?«
»Dir ganz gewiss nicht«, knurrte der Bruder. Raoul Paquin hatte einen heftigen Streit mit seiner Nichte gehabt, als sie in
ziemlich unverschämter Weise eine Aussteuer von ihm verlangte, und seither hatte böses Blut zwischen den beiden geherrscht.
Er hatte sie ignoriert, wenn sie, was
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