Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
die modernen Arkaden in London und Paris nicht messen konnten. Den Alsterarm überspannte hier die mächtige Reesendammsbrücke,
die die Verbindung zwischen dem alten Jungfernstieg und der Bergstraße bildete. Louise hatte jedoch ein anderes Ziel. Es zog
sie zur eben erst eröffneten Hamburger Filiale der Kaufhauskette Tietz, die am Großen Burstah in einem historischen Fleethaus
eingerichtet worden war und wegen ihrer hochmodernen Ausstattung, vor allem aber ihrer einzigartigen Lichterpracht von sich
reden machte.
Die Reklamen waren nicht übertrieben gewesen: Die elektrischen Lampen durchstrahlten den trüb-grauen Tag mit einem solchen
Glanz, dass der gesamte Bau wie in einen Heiligenschein gehüllt war und sich die Schatten der vorüberfahrenden Droschken und
hinzueilenden Käufer scharf von seinen Mauern abzeichneten.
Louise trat durch das Portal und strebte mit grimmiger Entschlossenheit der Abteilung zu, in der die neueste Mode auf experimentierfreudige
und extravagante Käuferinnen wartete. Sie würde weiterhin Trauer tragen, das gehörte sich so, auf jeden Fall bis nach dem
Begräbnis, aber nie wieder wollte sie schnaufend und halb erstickt in einer unbequemen Maskerade stecken.
Die Verkäuferin eilte herbei. Sie sah offenbar sofort, dass die bleiche Kundin in Trauerkleidung gewillt war, Geld auszugeben,
denn sie schleppte ihre schönsten Stücke herbei. Louise probierte eines nach dem anderen an und hätte sie am liebsten alle
gekauft, aber nach eineinhalb Stunden Suchen, Überlegen und Bewerten entschied sie sich für ein weich fallendes Trauerkleid
aus schwarzem Samt mit hoher Empire-Taille und einem bis zu den Knöcheln reichenden Rock, zu dem ein seidener Schal und auffallender
Trauerschmuck aus Elfenbein und Jett gehörten, ebenso ein Hut mit Halbschleier für draußen und ein raffiniert geschnittenes
Seidenhäubchen mit Spitzensaum für drinnen.
Sie blickte in den Spiegel und seufzte tief. Es war merkwürdig, in dieser anschmiegsamen Hülle den eigenen Körper als etwas
Bewegliches und Lebendiges zu fühlen, so unbehindert wie im Nachthemd, aber zugleich so elegant … so schön … Diese schmale Silhouette, die erkennen ließ, wie zartknochig Louise war, die gerafften Ärmel mit der Stickerei auf den Enden,
die den Blick auf ihre kindlich weichen Hände lenkten … Da sollte noch einmal jemand sagen, die reformierte Frauenmode bestünde aus Mehlsäcken!
Mit etwas belegter Stimme sagte sie: »Ich … Ich hätte dann gerne noch ein zweites Kleid, für … später.«
»Aber gewiss, meine Dame.«
Wieder wurden Kleider herbeigeschleppt und gustiert. Schließlich waren es zwei Kleider, die Louise einpackte, ein überaus
kühnes, taubengraues Modell, bei dem ein Korsett nicht einmal mehr angedeutet war, und ein zweites, meergrünes, das eher konventionell
geschnitten war, allerdings auch ohne Korsett, Versteifungen und Polster auskam.
Sie zahlte, ließ sich die Ware einpacken und spürte beimHinausgehen, wie ihre Freude an den Kleidern plötzlich in dumpfe Depression umschlug. Sie fühlte sich Raoul gegenüber so schuldig,
dass ihr die Tränen in die Augen traten. Vergeblich sagte sie sich, dass sein Geschmack in Kleidern reichlich altmodisch gewesen
war. Sie schämte sich einfach, dass sie so seinen erklärten Willen durchkreuzte. Sich nach zwei Jahren wohliger Geborgenheit
aus einem goldenen Käfig zu befreien, war nicht einfach, und einen Augenblick lang war Louise so erschrocken über ihre eigene
Courage, dass ihr die Knie weich wurden und sie sich an die Hauswand lehnen musste. Sie konnte von Glück reden, dass rasch
eine Droschke vorbeikam, sonst wäre ihr vielleicht noch in aller Öffentlichkeit übel geworden.
6
Als Louise das Löwenhaus betrat, fröstelte sie. Dunkel und kalt wie ein Mausoleum lag die hohe Halle vor ihr. Die beiden griechischen
Göttinnen aus Alabaster schienen in dieser Dunkelheit wie Geister zu schweben. Sie mochte die Art nicht, wie ihr Schritt auf
den Marmorfliesen hallte. Mit klammen Fingern drehte sie die Gaslampe neben dem Eingang höher und querte in dem schwachen
Schimmer die Halle. Auf dem Tischchen, auf dem üblicherweise die Post abgelegt wurde, entdeckte sie einen Bogen Schreibpapier,
auf dem in überdimensionalen Lettern die Botschaft gemalt war: »Ich rede nie, NIE wieder ein Wort mit dir! Paula.«
»Soll mir nur recht sein«, murmelte Louise vor sich hin.Dennoch vermisste sie die Gegenwart
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