Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
etwas gelernt haben, gibt man ihnen nur die schlecht bezahlten Arbeiten. Sie sind vom Wohlwollen anderer abhängig
und stehen ständig am Rand des Verhungerns.« Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Ich verstehe nicht, warum
manche Frauen so feindselig sind, wenn man ihnen doch nur helfen will.«
Louise zuckte die Achseln. »Weißt du, wie viele Leute mit einem Rezept in die Apotheke kommen, Medizin kaufen und sie dann
nicht einnehmen, obwohl ihnen alle Knochen schmerzen? Wahrscheinlich ist es bei diesen Frauen dasselbe.« Insgeheim aber dachte
sie, dass Amys forsche, missionierende Art bei manchen Leuten eben schlecht ankam, vor allem bei solchen, die wie Paula ohnehin
in ihrem Stolz verletzt waren.
2
Anfang April konnte Dr. Taffert seiner Klientin mitteilen, dass die Gerichtsverhandlung für den siebten des Monats angesetzt war. An jenem Tag begleitete
er sie denn auch zum Zivilgericht.
Es war ein regnerischer Frühlingstag. Im Palais, in dem sich das Gericht befand, roch es nach nassem Stein und nassen Mänteln,
und dieser Geruch stand in scharfem Gegensatz zur Pracht der Marmortreppe, die in den ersten Stock führte. Louise war froh,
dass Dr. Taffert an ihrer Seite war. Frederick und Dr. Thurner hatten es sich nicht nehmen lassen, sie gewissermaßen als Leibgarde zu begleiten, und auch Amy hatte sich ihnen angeschlossen.
Eine erschreckend große Menschenmenge strömte in den Sitzungssaal. Das öffentliche Interesse war groß – jeder wollte wissen,
wer die reiche Erbschaft nun einstreifen würde.
Louise hatte erwartet, dass es so feierlich zugehen würde wie bei einem Kriminalprozess. Es kam jedoch nur ein Richter mit
zwei Beisitzern, und die Kombattanten nahmen in einer Reihe vor dem Richtertisch Platz – der Baron von Pritz-Toggenau mit
Anwalt auf der einen und die junge Witwe mit Dr. Taffert auf der anderen Seite. Hermine und ihre beiden Kinder sowie Paula Hahne saßen direkt hinter dem Baron, Amy, Frederick,
Dr. Thurner, Schlesinger und seine Frau stärkten Louise den Rücken. Der Rechtsvertreter der Pritz-Toggenaus war ein strammer Militärjurist,
der Louise wiederholt durch seinen Kneifer durchdringend anstarrte, als wollte er ihr signalisieren: Nichts bekommen Sie,
junge Frau, überhaupt nichts!
Sie hatte gedacht, der Richter habe alle Unterlagen vor sichund werde rasch entscheiden, aber die Verhandlung zog sich in die Länge. Der Notar gab Auskunft, auf welche Werte in Bargeld,
Immobilien und Antiquitäten sich das Vermögen insgesamt belief. Dann rief Dr. Taffert seinen ersten Zeugen auf, Vorstand des Kriminalreviers am Jungfernstieg, und nach ihm mehrere andere Polizisten. Sie
alle bestätigten, dass ihnen Herr Paquin mit seinen täglichen Klagen und Beschwerden schon sehr lästig geworden war und sie
keinen Zweifel daran hatten, dass sein Verstand zerrüttet war. Als Nächstes trat der Pathologe in den Zeugenstand, der die
Obduktion durchgeführt hatte. Er bestätigte, dass der Verstorbene seit mindestens einem halben Jahr an chronischem Saturnismus
gelitten hatte, hervorgerufen durch den Genuss eines schädlichen Tonikums, und eine solche Vergiftung verursache in der Regel
geistige Verwirrung.
Louise kam bald nicht mehr mit bei all den Fragen und Gegenfragen und der Verlesung von Gutachten. Sie fühlte sich müde und
ausgebrannt von den seit Wochen andauernden Streitereien und wünschte nur, dass endlich eine Entscheidung gefällt würde, ob
für oder gegen sie.
Sie fuhr wie aus dem Schlaf hoch, als der Richter verkündete, dass die Standpunkte beider Parteien nun ausreichend dargelegt
worden seien und er seine Entscheidung bekannt geben wolle. Die beiden gegnerischen Parteien erhoben sich. Die Stimme des
Richters hallte durch den Saal.
»Das Gericht ist der Meinung, dass das vorliegende Testament im Zustand geistiger Verwirrung, hervorgerufen durch eine chronische
Vergiftung, abgefasst wurde und folglich nicht dem klaren und vernünftigen Willen des Erblassers entspricht. Es wird daher
für ungültig erklärt.«
Hermine von Pritz-Toggenau, die mit weit aufgerissenenAugen gelauscht hatte, stieß einen Schrei des Entsetzens aus. »Nein! Uns gehört das Geld!«
Der Richter wies sie mit scharfen Worten für ihren Zwischenruf zurecht und fuhr fort: »Gültig ist damit das frühere, vom Erblasser
in seinem Tresor deponierte Testament, in dem folgende Verfügungen getroffen wurden …« Er las das
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