Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
alle bei mir, nur den Schlüssel zum Tresor nicht.«
»Den habe ich ganz vergessen! Er müsste längst fertig sein. Ich rufe den Schlosser an, er soll ihn gleich bringen lassen.«
Der Schlüssel war tatsächlich fertig; es dauerte keine Viertelstunde, bis ein Junge erschien und ein Päckchen ablieferte.Louise trat an den Tresor heran und steckte den Schlüssel in das Schloss, das den Eisenkoloss vor Zugriffen schützte. Er fasste
mühelos. Eine leichte Bewegung genügte, und die Zacken bewegten sich, die Zapfen glitten zurück, und die massige Tür schwang
schwach in den Angeln quietschend auf.
Im Inneren befanden sich zwei Fächer. Im unteren lagen die wichtigsten Bücher, die ein Apotheker besitzen musste, die beiden
reichseinheitlichen Arzneimittelverzeichnisse, die Pharmacopoea Germanica in der Ausgabe von 1872, und deren Vorläuferin,
die Pharmacopoea Germaniae von 1865, beide in lateinischer Sprache verfasst. Daneben stapelten sich verschiedene Rezeptarien.
Ebenfalls dort aufbewahrt waren alle Journale seit dem Jahr 1863, die Tagebücher der Apotheke, in denen wichtige Ereignisse
verzeichnet wurden.
»Wir haben Glück, dass Raoul nicht auf den Gedanken gekommen ist, auch das hier zu verbrennen«, bemerkte Louise, während sie
die Bücher auf dem Tisch stapelte.
»Vor allem das hier.« Schlesinger streckte die Hand ins Fach und zog einen steifen Umschlag hervor, der mit dem Siegel der
Apotheke verschlossen war und die Aufschrift trug: »Letzter Wille und Testament des Apothekers Raoul Paquin.«
Die beiden starrten einander an. Dann, bevor der Magister reagierte, riss Louise den Umschlag an sich, brach das Siegel und
klappte ihn auf. Das Testament war in der unverkennbaren Handschrift des Verstorbenen verfasst und ein Jahr nach seiner Hochzeit
mit Louise datiert, Monate vor dem Beginn der Erkrankung.
Danach erhielt die Familie von Pritz-Toggenau einmalig einen beträchtlichen Betrag, für Paula Hahne wurde eine lebenslange
Leibrente ausgesetzt, dem Magister wurde der Inhalt des Thesaurus zugesprochen, das Haus ging an den AbbéMaxiant, um in ein Pflegeheim für chronisch kranke Kinder verwandelt zu werden. Für Dr. Thurner war ein kleineres Legat verfügt worden. »Der nach Abzug aller Legate verbliebene Rest wird in der Weise geteilt, dass
zwei Drittel meine geliebte Frau erhält und ein Drittel mein treuer Privatsekretär, der mir lieb wie ein Sohn ist.«
Louise seufzte. Dieses Testament war ja nun – sofern das Gericht nicht anders entschied – ungültig, aber es tröstete und beruhigte
sie, dass Raoul in seinen guten Zeiten so vernünftige Entscheidungen getroffen hatte. Sie steckte es in den Umschlag zurück.
»Ich werde das Dr. Taffert bringen, Sigmund. Sagen Sie vorderhand niemandem etwas davon.«
Schlesinger nickte, war aber in Gedanken woanders.
»Ich fühle mich sehr geehrt, dass er mir den Thesaurus vermachen wollte. Ich weiß, wie viel ihm unsere private Sammlung bedeutete.«
Louise empfand einen Stich der Eifersucht bei dem Wort »unsere«. Es ärgerte sie, dass Raoul mit anderen Menschen Geheimnisse
gehabt hatte, von denen er sie ausschloss. Dann jedoch nahm sie sich zusammen. Mit gedämpfter Stimme, obwohl sie vor Lauschern
sicher waren, sagte sie: »Sie jedenfalls können Ihr Erbe antreten. Wir dürfen ja doch nicht zulassen, dass die Sammlung bekannt
wird; je eher wir sie fortschaffen, desto besser.« Sie fing den gierigen Blick auf, den er ihr zuwarf, und lächelte. »Packen
Sie alles, was Ihnen wichtig ist, unbemerkt in Kisten und nehmen Sie es mit.«
»Wirklich? Sie würden …«
Louise lächelte ihm zu und drückte den Zeigefinger auf die Lippen.
8
Am nächsten Tag erhielt Louise überraschende Post. Ein Bote brachte ihr ein steifes Kuvert, das an sie adressiert und mit
»Vertraulich! Persönlich!« gekennzeichnet war, jedoch keinen Absender trug. Sie nahm es argwöhnisch entgegen. Seit Raouls
Tod hatte sie einige anonyme Briefe bekommen, deren Schreiber sie schmähten und ihr alles erdenkliche Unglück wünschten.
Dieser hier war jedoch anders. Der Umschlag enthielt nur drei Fotos. Sie alle zeigten einen in der Gosse liegenden Mann, der
offenbar eine fürchterliche Tracht Prügel bezogen hatte. Louise hatte einige Mühe, unter all den Beulen das Gesicht von Kriminalpolizeiinspektor
Trattenbach wiederzuerkennen. Auf der Rückseite eines Fotos war in Blockschrift vermerkt: »Bitte nicht aufbewahren! Von einem
Freund und
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