Die Frau des Diplomaten (German Edition)
tief durch. Dann gehe ich zur Anzeigetafel, auf der die ersten Züge aufgeführt sind. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bahnhofshalle entdecke ich zwei Polizisten, von denen einer einen Schäferhund an der Leine hält. Vor Schreck erstarre ich, aber ich zwinge mich zur Ruhe. Die Stadt wurde unter Kriegsrecht gestellt, da ist es kein Wunder, dass die Polizei Präsenz zeigt. Trotzdem schlägt mein Herz wie verrückt, während ich weitergehe und wie eine ganz normale Reisende zu wirken versuche. Um Viertel vor sieben fährt zwar ein direkter Zug nach Berlin, doch ich wage es nicht, den zu nehmen. Eine halbe Stunde später soll ein Zug nach Děčín fahren, ein Ort nahe der deutschen Grenze. Den werde ich nehmen. Ich gehe zum Schalter und kaufe eine Fahrkarte, die mich fast alles Geld kostet, das Renata mir gegeben hatte. Um keinen Verdacht zu wecken, nehme ich eine Hin- und Rückfahrt. Dann kaufe ich mir eine Zeitung, setze mich an einen Tisch und tue so, als würde ich aufmerksam einen Artikel lesen. Tatsächlich beobachte ich über den Rand der Zeitung hinweg die Bahnhofshalle und stelle fest, dass die Polizisten weggegangen sind.
Langsam werde ich etwas ruhiger. Der Bahnhof ist inzwischen deutlich belebter, Reisende eilen in alle Richtungen. Mein Blick bleibt an einem großen Mann in einem dunklen Trenchcoat hängen, der die Halle durchquert. Etwas an seiner Art zu Gehen ist auffällig, und zusammen mit dem lockigen Haar erinnert er mich verblüffend an Paul. Ich stehe auf, um ihn besser sehen zu können. Der Mann verschwindet in der Menge, und während ich ihm nachstarre, bin ich auf einmal nicht mehr in Prag, sondern zurück auf Kings Cross Station . Plötzlich bemerke ich, wie mich die Frau am Nebentisch seltsam ansieht, und ich setze mich wieder. So lange Zeit habe ich nicht mehr an Paul gedacht. Warum muss ich ausgerechnet jetzt einen Geist sehen? Es liegt wohl daran, dass ich Emma von ihm erzählt habe.
Ich falte die Zeitung zusammen, stehe auf und gehe auf den Bahnsteig, wo der Zug nach Děčín einfahren soll. Auf dem Weg dorthin komme ich an einem öffentlichen Telefon vorbei. Soll ich es wagen, Simon anzurufen? Renata sagte, alle Leitungen in den Westen seien unterbrochen, aber ich kann es zumindest versuchen. Rasch nehme ich den Hörer ab. „Ein Auslandsgespräch“, bitte ich auf Tschechisch. Einen Augenblick später meldet sich die Vermittlung, und ich nenne die Nummer in London. Es klingelt einmal, dann ein zweites Mal. Geh ran, Simon, denke ich. Nimm ab, bevor Rachel aufwacht. „Hallo?“ Simons verschlafene Stimme dringt aus dem Hörer.
„Auslandsgespräch“, sagt die Frau von der Vermittlung. „Übernehmen Sie die Gebühren?“
„Ja“, antwortet er und klingt sofort hellwach.
„Simon, ich bin’s.“
„Marta! Wo bist du? Geht es dir gut?“
„Ja, ich bin immer noch in Prag. Was Marcelitis angeht …“
„Wir wissen von der Machtergreifung. Wir versuchen seit gestern, die Botschaft zu erreichen. Es wurden mehrere Diplomaten ausgeflogen, und wir hatten gehofft, dass du dabei bist. Du musst sofort das Land verlassen, Marta! Wenn du es nach Wien schaffst, kann ich …“
„Simon, das ist noch nicht alles.“ Mit knappen Worten erzähle ich ihm von dem Mann, der sich auf der Brücke als Marcelitis ausgab. „Marcelitis ist nicht aufgetaucht, aber er soll in Berlin sein. Wenn ich es dorthin schaffe, kann ich ihn dazu bringen, uns zu helfen.“
„Marta, das ist Irrsinn! Du weißt doch gar nicht, wo du nach ihm suchen sollst.“
„Doch, ich habe eine Adresse. Oranienburger Straße.“
„Aber du hast niemanden, an den du dich in Berlin wenden kannst. Und wie sollen wir dich da rausholen …“
„Ich schaffe das schon, Simon.“ Plötzlich bemerke ich einen Polizisten, der sich mir nähert und mich ansieht. „Ich muss jetzt auflegen. Sag Rachel, dass ich sie liebe und bald wieder bei ihr bin.“ Simon redet immer noch, als ich den Hörer einhänge. Mein Herz schlägt wie verrückt, während ich zu dem Polizisten schaue. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme und gibt bekannt, dass mein Zug einfährt.
„Entschuldigen Sie“, sage ich mit betont ruhiger Stimme zu dem Polizisten und gehe an ihm vorbei, während ich den Blick stur auf den Zugang zum Bahnsteig richte. Als ich mich weit genug entfernt habe, schaue ich unauffällig über die Schulter. Der Polizist ist weitergegangen und beachtet mich nicht mehr.
Nachdem ich in den Zug gestiegen bin, suche ich nach einem leeren
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