Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Marcelitis zusammen hier. Aber ich kann ihn nirgends sehen, und ich habe keine Ahnung, wie Marcelitis aussieht. Allerdings sind beide bestimmt klug genug, um sich von so einem Massenauflauf fernzuhalten. Ein Stück vor mir setzt jemand zur tschechischen Nationalhymne an, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet, bis alle sie singen. Beim Anblick der entschlossenen Gesichter ringsum muss ich an unsere Bewegung in Kraków denken. Hätten wir in der Bevölkerung einen solchen Rückhalt gehabt, wäre vieles vielleicht anders gekommen.
Die Hymne ist zu Ende, die Menge rückt weiter vor und drängt auf die Stufen. „Kein Kommunismus!“, rufen die Menschen. „Demokratie!“ Die vordersten Demonstranten haben die Barrikade erreicht, einige von ihnen beschimpfen die Polizisten. Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, doch es scheint, als wollten sie in das Gebäude gelassen werden. Ein Polizist schubst einen Mann, der rücklings zu Boden geht. Die Menge wird unruhig, es kommt zu Rangeleien zwischen beiden Seiten. Die hinteren Reihen drängen entrüstet über die drohende Eskalation weiter nach vorn.
Plötzlich hallt ein Schuss über den Platz, dann ein zweiter. Die Menge erstarrt. Die Polizisten müssen Warnschüsse in die Luft abgegeben haben. Dann jedoch sehe ich auf der obersten Stufe der Treppe eine Gestalt liegen, die ein gelbes Jackett trägt. Hans! Er rührt sich nicht.
„Nein!“, stoße ich keuchend aus. Ich muss mich davon abhalten, laut zu schreien. Die Menge steht ungläubig da, während die Polizei die Gelegenheit nutzt und die Initiative ergreift. Mit Knüppeln gehen die Polizisten auf die Demonstranten los. Entsetzt sehe ich mit an, wie einige von ihnen niedergeschlagen und andere davongeschleift werden. Die Menge tritt die Flucht an, die Polizisten rennen hinterher. Ich muss von hier wegkommen. Wenn ich in der Nähe dieser Leute bleibe, droht mir eine Verhaftung oder sogar Schlimmeres. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen Wagen der Polizei, der genau die Straße blockiert, durch die wir hergekommen sind. Wir sitzen in der Falle.
Ich schaue mich um und entdecke eine freie Gasse. Rasch bahne ich mir den Weg dorthin, rechne aber bei jedem Schritt damit, dass man mich zu fassen bekommt. Ich laufe durch das Gewirr aus schmalen Straßen, so schnell ich nur kann, während ich nach dem Weg zurück zum Altstadtplatz suche. Meine Lungen brennen vor Anstrengung. Dann endlich habe ich den Platz erreicht. Ich werde langsamer, sehe zur Astronomischen Uhr, und denke an Hans.
Aber ich habe keine Zeit zu verlieren, ich bin nicht die Einzige, die dem Chaos entkommen ist. Immer mehr Leute erreichen den Platz. Ein Mann hat eine Platzwunde an der Schläfe. In einiger Entfernung höre ich eine Sirene, als wolle man die Demonstranten daran erinnern, dass die Niederschlagung ihres Protests noch nicht vorüber ist. Ich beeile mich, damit ich auch von diesem Platz wegkomme.
Einige Minuten später erreiche ich die Straße, in der sich mein Hotel befindet. In einem Schaufenster sehe ich im Vorbeilaufen mein Spiegelbild. Meine Wangen glühen, der Haarknoten hat sich zum größten Teil aufgelöst. Ich sollte auf mein Zimmer gehen und mich frisch machen, doch dann fällt mein Blick auf die Uhr an der Hotelfassade. Es ist elf Uhr, nur noch eine Stunde bis zu meinem Treffen mit Marek, und ich weiß nicht, wie lange ich zum Park brauchen werde. Also begebe ich mich direkt zur Bushaltestelle.
Kurz darauf kommt ein Bus, und ich steige ein. Ein paar Schulkinder sitzen auf den hinteren Bänken, sonst ist alles frei. Ich nehme ein paar Reihen hinter dem Fahrer Platz und schaue aus dem Fenster. Während sich der Bus seinen Weg durch die Altstadt bahnt, muss ich darüber nachdenken, wie brutal die Polizei gegen die Demonstranten vorgegangen ist. Ich wusste, dass die von den Sowjets gelenkte Regierung auf Unterdrückung setzt und jede kritische Stimme im Keim erstickt, doch ich hätte nicht gedacht, dass sie auf ihr eigenes Volk schießt. Ich halte meine Handtasche fester an mich gedrückt. Mit einem Mal erscheint mir meine Mission noch viel wichtiger.
Der Bus verlässt die Altstadt und folgt dem Fluss in südlicher Richtung. Die Schulkinder steigen aus, zwei Frauen steigen ein, die sich in rasantem Tschechisch über die Kartoffelpreise unterhalten. Eine trägt einen Korb mit Lebensmitteln, die andere hat Kohlen bei sich. Die Straße wird holpriger, die Bebauung spärlicher. Die Häuser hier sind kleiner und in einem schlechteren Zustand.
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