Die Frau des Germanen
Bernsteinkugeln in Thusneldas Ausschnitt zurecht. Sie war an einem breiten Steg befestigt, an dem überdies
zwei zarte metallene Blätter festgeschmiedet waren.
»Besser, Ihr redet jetzt kein einziges Wort mehr«, flüsterte Inaja, während sie überprüfte, ob die Bernsteintraube sich perfekt
in Thusneldas Dekolleté schmiegte. »Sorgt dafür, dass Euer Vater stolz auf Euch ist, wenn Ihr in die Teutoburg einzieht. Nicht
auf Eure Worte, sondern auf Eure Schönheit.«
Thusnelda nickte. Am liebsten hätte sie sich Inajas Ermahnungen verbeten, aber sie zog es vor zu schweigen. Inaja war ihre
Vertraute, die sie kannte wie keine zweite. Alle Geheimnisse waren bei ihr gut aufgehoben. Inaja war loyal und war immer ehrlich
zu Thusnelda. Da ging es nicht an, dass sie jetzt gemaßregelt wurde, nur weil Thusnelda ihre offenen Worte nicht gefielen.
|54| Zudem quälte sie nun die Frage, ob sie überhaupt recht hatte. Selbstverständlich war ihr Vater klüger und weitsichtiger als
sie. Vielleicht war es richtig, wenn er sagte, dass das Volk zur römischen Lebensart erzogen werden müsse. Auch Kinder wurden
gezüchtigt, bis sie so weit erzogen waren, dass sie begriffen, worauf es im Leben ankam. Diese schmerzliche Erfahrung musste
wohl sein. Tatsächlich brachten die Römer viele moderne Errungenschaften ins Land, und jeder Germane sollte sie zu schätzen
wissen. Vielleicht war sie wirklich dumm, wenn sie Varus’ Ausschweifungen zum Maßstab ihrer Beurteilungen machte? Und auf
keinen Fall durfte sie wiederholen, dass die germanischen Stammesfürsten nur deshalb die römische Herrschaft begrüßten, weil
Varus sie an seinen Ausschweifungen teilhaben ließ.
Sie hatte ihren Vater einmal betrunken heimkehren sehen und belauscht, wie er mit Ingomar über feinste Speisen, köstlichen
Wein und sogar über nackte Tänzerinnen gesprochen hatte, die bereit gewesen waren, den anwesenden Männern alle Wünsche zu
erfüllen. Thusnelda erkannte zwar nicht, was das für Wünsche waren, aber ihr Instinkt sagte ihr, es würde einen guten Grund
geben, dass sie nichts von diesen Wünschen wusste.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten und senkte sich über die Baumwipfel, als sie sich aufmachten, ein Tross von fünfzehn
Pferden, Segestes und Ingomar voran. Dann folgten die beiden Frauen, Inaja auf einem kleinen aufgeregten Pferd und Thusnelda
auf ihrem gutmütigen Braunen. Beide saßen seitlich auf den Pferderücken und ließen die Tiere von Ingomars Begleitern führen.
Zwei von Segestes’ Männern schlugen dumpf die Tontrommeln, die sie sich umgehängt hatten, damit jeder, der ihnen begegnete,
wusste, mit welchem Ziel sie unterwegs waren.
Als sie die Teutoburg erreichten, war die Sonne gerade hinter den riesigen alten Eichen verschwunden, ihr Licht jedoch lag
noch auf den Dächern der Häuser und Hütten, auf dem Grat des Walls, der die Teutoburg befriedete, und blitzte auf den Waffen
der Männer, die sie beschützten.
|55| Das große hölzerne Tor öffnete sich, noch bevor sie es erreichten. Die Wachen salutierten schweigend, sie wussten, dass ihr
Herr sich bereit machte, den Weg nach Walhalla anzutreten, den viele germanische Krieger schon vor ihm beschritten hatten,
die meisten aus einem schweren Gefecht heraus. Grabesstille lag bereits über der Burg, obwohl ihr Herr noch zu den Lebenden
gehörte.
Die Wächter griffen nach den Zügeln der Pferde und machten sich daran, den Bruder des Sterbenden und die Bewohner der Eresburg
zu dem größten Haus zu führen, das in der Mitte der Teutoburg lag, an ihrem höchsten Punkt.
»Lebt der Fürst noch?«, fragte Segestes leise.
Einer der Wächter nickte. »Aber die Tore Walhallas sind bereits für ihn geöffnet worden.«
»Sind die Söhne schon eingetroffen?«, fragte Ingomar.
Nun schüttelte der Wächter den Kopf. »Wohl deshalb hat Fürst Segimer das Tor noch nicht durchschritten. Er möchte sein Haus
wohlgeordnet zurücklassen.«
Segestes und Ingomar warfen sich einen Blick zu, Segimers Bruder setzte sich daraufhin an die Spitze des Zuges. Hoch aufgerichtet
saß er auf seinem Pferd, wandte den Kopf nach links und rechts, als messe er bereits den Wert dessen, was er künftig sein
eigen nennen wollte.
Thusnelda wusste, dass nach dem Tod des Vaters Platz für zwei Söhne und ihre Familien auf der Teutoburg gewesen war. Aber
Ingomar hatte es abgelehnt, in einer Burg zu leben, in der nicht er der Herr war, sondern sein Bruder. Hals
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