Die Frau des Germanen
nächsten Gebüschs, als Flavus sie anherrschte: »Verschwinde!«
Sie bewegte sich erst wieder, als Flavus sich mit seinem Bruder entfernte.
»Wir sollten miteinander reden«, hörte sie Arminius sagen. »Alle schlafen. Niemand kann uns belauschen.«
Die beiden blieben stehen, und Inaja überlegte fieberhaft, wie sie sich entfernen konnte, ohne gehört zu werden, oder ob sie
hocken bleiben konnte, ohne entdeckt zu werden. Was mit ihr geschehen würde, wenn der Verdacht auf sie fiel, dass sie zwei
Fürstensöhne, zwei römische Offiziere bei einem heimlichen Gespräch belauschte, mochte sie sich nicht ausmalen.
»Du kennst die Wünsche unseres Vaters«, sagte Arminius.
Flavus ließ ihn nicht weiterreden. »Muss ich sie kennen?«, stieß er hervor. »Nur seinen erstgeborenen Sohn hat er vor seinem
Tod ins Vertrauen gezogen.«
»Trotzdem kennst du seine Wünsche«, beharrte Arminius.
»Aber ich will sie nicht aussprechen«, entgegnete Flavus schnell. »Wäre ich sein Erstgeborener und hätte er mich einschwören
wollen auf den Kampf gegen Rom, ich hätte ihm erklärt, dass er nun ernten soll, was er gesät hat.«
»Er hat bereut, dass er uns in römische Erziehung gegeben hat.«
»Dann hat er zu spät bereut!«, gab Flavus heftig zurück. »Unsere Tränen haben ihn nicht gerührt, als wir von unserer Mutter
getrennt wurden. Und auch ihre Tränen haben ihn nicht bewegen können, uns in der Teutoburg aufwachsen zu lassen. Dort, wo
wir geboren wurden. Nun haben wir gelernt, wie groß und herrlich das römische Reich ist. Nun kennen wir römische Lebensart,
römischen Luxus, römische Kultur. Nun wissen wir, dass es gut ist, all das demnächst auch hier im Cheruskerland zu haben.«
»Und was hältst du von der römischen Gewalt?«, fragte Arminius hitzig zurück. »Segestes’ Frau, Thusneldas Mutter, war eine
Marserin. Was mag ihre Seele klagen, wenn sie vom Totenreich hinaufsieht in ihr zerstörtes Land! Verbrannte Gehöfte, niedergemetzelte
Bauern …«
|81| »Sie hätten sich auf das Bündnis mit Rom einlassen sollen, dann wäre das nicht passiert. Und auch du solltest jeden anderen
Gedanken aus dem Kopf verbannen, Bruder!«
Ein kurzes Schweigen tat sich auf. Inaja machte den Versuch, aus ihrem Versteck zu huschen, weil sie glaubte, die beiden Männer
hätten sich mittlerweile so weit entfernt, dass sie ungesehen ins Haus zurückkehren konnte. Aber als sie ihr Gespräch fortsetzten,
merkte Inaja, dass sie sich noch immer in der Nähe aufhielten, und zog sich in den Schutz der Sträucher zurück.
»Was ist mit der schönen Severina?«, fragte Flavus leise, aber Inaja verstand seine Worte trotzdem. »Wenn du sie heiraten
willst, darfst du nicht mit Rom hadern.«
»Severina?« Arminius dehnte den Namen, als brauchte er Zeit, sich an ihn zu erinnern. Dann lachte er spöttisch. »Sie will
ich gewiss nicht heiraten.« Er senkte die Stimme, aber da in diesem Augenblick kein Windhauch wisperte, konnte Inaja auch
die folgenden Worte mühelos verstehen. »Es gibt unter diesem Dach eine junge Frau, um deren Hand ich auf der Stelle anhalten
würde, wenn sie nicht bereits vergeben wäre …«
Nun entfernten sich die beiden, bald waren ihre Stimmen nicht mehr zu hören. Inaja richtete sich auf und klopfte ihre Kleidung
ab. Vorsichtig tastete sie über ihr Dekolleté und hoffte, dass sich die Bisswunden nicht entzünden würden. Wie sollte sie
ihrer Herrin erklären, wie ihr die Verletzungen beigebracht worden waren?
Wenig später lag sie wieder an Thusneldas Seite und starrte in die Finsternis. Wie das Leben in der Burg des Fürsten Aristan
aussehen würde, wusste sie nicht, und sie fürchtete sich vor der Ungewissheit genauso wie Thusnelda selbst. Das Leben auf
der Teutoburg dagegen würde wunderbar sein. Dort gab es einen Mann, der für Inaja zum Ehemann taugte, sie würde bei Thusnelda
bleiben und ihr weiterhin dienen können, würde viele Kinder mit Hermut haben, die gemeinsam mit den Kindern von Arminius und
Thusnelda aufwachsen würden …
|82| 5.
S ämtliche Gaufürsten des Umkreises waren mit ihren Angehörigen und einem Teil ihrer Bediensteten in die Teutoburg gekommen,
um mit Segimers Familie dessen Übersiedlung nach Walhalla zu feiern. Dort würde er in die goldene Halle der Erschlagenen einkehren,
wo die in der Schlacht Gefallenen einträchtig beieinander saßen, miteinander zechten und bei kleinen Kämpfen ihren Spaß hatten.
Zwar war Segimer nicht im
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