Die Frau des Germanen
darauf zuzulaufen. Beide ahnten sie nicht, dass sie auf dasselbe warteten, daher war ihnen ihr Stolz nicht
im Wege.
Dann endlich schien Hermut einzusehen, dass er Inaja nicht finden würde, dass er vermutlich sowieso an der falschen Stelle
suchte, dass sie vielleicht nur in aller Eile ein wenig Kleinholz gesammelt hatte und nun längst wieder neben dem Küchenfeuer
stand.
Als er zurückschlenderte, atmete Inaja auf. Bald würde sie aus |89| ihrem Versteck hervorkommen können! Doch noch bevor Hermut verschwand, sah sie, dass Flavus’ Haltung sich veränderte. Er straffte
sich, richtete sich auf, dehnte den Oberkörper, ging so nah wie möglich an die Grenzmauer heran und legte die Hand über die
Augen. Anscheinend sah er etwas, was ihn alles andere vergessen ließ. Die Brust einer kleinen Dienstmagd, ihre pralle Haut,
die so willig aufplatzte, ihre kleinen Schreie, wenn seine Lust sie quälte, und ihre Demut, die er für Angst hielt, an all
das dachte er nicht mehr. Ein letztes Mal beugte er sich so weit wie möglich vor, dann lief er mit großen Schritten davon.
Inaja wäre ihm gern gefolgt, aber Hermut war mit einem Mal stehen geblieben und sah Flavus nun verwundert hinterher. Verständnislos
schüttelte er den Kopf und starrte eine Weile auf seine Füße.
»Geh endlich!«, flüsterte Inaja.
Als hätte Hermut es vernommen, setzte er sich in Bewegung und drängte sich durch die Hecke zurück zu den Trauergästen, deren
Stimmen mit jedem Trinkhorn, das gefüllt wurde, lauter dröhnten.
Sie wartete keinen Augenblick länger als nötig. Kaum war Hermut verschwunden, kam Inaja hinter dem Schober hervor und nahm
den Weg, den Flavus gegangen war. Unmittelbar an der Begrenzungsmauer hatte er sich entlangbewegt und immer wieder hinübergesehen,
bis er sich ihren Blicken entzogen hatte. So schnell es ging, folgte Inaja ihm. Hoffentlich wurde sie in der Küche nicht vermisst!
Aber wenn sie sich an den Brombeerhecken entlangdrängte, konnte sie später, sofern sie beobachtet worden war, behaupten, man
habe sie zum Beerenpflücken geschickt. Thusnelda würde ihr glauben, denn wenn die Männer Met in ihre Trinkhörner bekamen,
wurde den Frauen häufig pürierte Beeren und gepresstes Obst angeboten.
Nun stand sie am Ende des Küchengartens und sah sich um. Herumwühlende Schweine in ihrer Nähe, ein paar Hühner, zwei Ziegen
– aber Flavus war nicht zu sehen. Geduckt huschte Inaja zwischen Obstbäumen entlang, durch deren Stämme sie die |90| Witwe Fürst Segimers und ihre Tochter sehen konnte, die sich abseitshielten, weil die Trauer sie vom alltäglichen Leben entrückt
hatte. Zum Glück hielten die beiden ihre Blicke gesenkt, so dass Inaja ungesehen ein paar Schritte weiterkam, dorthin, wo
sich erneut Schutz bot. Hinter einem Klafter Holz konnte sie sich aufrichten und einen guten Teil der Teutoburg überblicken.
Unter ihr, am tiefsten Punkt der Burg, lag das große hölzerne Eingangstor, das nun nicht mehr geschlossen war. Wurden weitere
Gäste erwartet? Nein, das konnte nicht sein. Lediglich ein schmaler Spalt des Tores stand offen, so dass sich gerade ein Mann
hindurchdrängen konnte. Für Gäste wurde das Tor immer einladend weit geöffnet.
Inaja entschloss sich, den Weg zurückzuschleichen, den sie gekommen war, hin zu dem Punkt, von dem die Umgebung der Teutoburg
zu überblicken war. Wenige Augenblicke später stand sie erneut in der Nähe des Heuschobers, diesmal genau an jenem Punkt,
an dem Flavus auf etwas aufmerksam geworden war, was ihn alles andere vergessen ließ. Nun sah sie es auch! Wäre sie vorher
umsichtiger gewesen, hätte sie den Reiter schon früher gesehen, der sein Pferd vermutlich gerade in dem Augenblick aus dem
Wald getrieben hatte, als Flavus sich dem Ausblick zuwandte. Der Reiter hatte ein gutes Stück zu überwinden, bis er am Fuß
der Burg angekommen war. Zeit genug für Flavus, ihm durchs Tor entgegenzugehen.
Inaja beobachtete, dass der Reiter sein Pferd zügelte, als er den blonden römischen Offizier auf sich zutreten sah. Schon
bevor er heran war, hörte Inaja ihn rufen: »Lasst mich zu Arminius! Ich komme direkt aus Rom! Kurier der kaiserlichen Familie!
Ich habe eine wichtige Nachricht für den Ritter des römischen Reiches!«
Nun standen die beiden Männer voreinander. Inaja blickte von oben auf Flavus’ blondes Haar und sah, dass seine unruhigen Hände
nervös über die Tunika strichen. Der römische Kurier trug einen
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