Die Frau des Germanen
Kindheit war unwiderruflich zu Ende, das wurde Thusnelda in diesem Augenblick schmerzhaft
klar.
Sie beugte sich so weit vor, dass sie ihre Knöchel umfassen konnte. Sachte schaukelte sie vor und zurück, als müsste sie sich
selber trösten, als müsste sie ihren Mut wiegen, damit er aufhörte, |111| wie die Angst zu schreien. Mit jeder Körperbewegung schwang die Bernsteinkette vor ihrer Brust hin und her. Ob auch ihre Mutter
sich kurz vor der Hochzeit ein paar Schritte in die Freiheit getraut hatte, bevor sie sich die Bernsteinkette umlegen und
dem Cheruskerfürsten Segestes zur Frau geben ließ?
Inaja hockte sich ebenfalls an die Erde, doch Thusnelda schien es nicht zu bemerken. Wie ihre Herrin so hing auch die Dienstmagd
mit einem Mal vielen Fragen und Erinnerungen nach. Die Gewissheit, dass das Leben sich ändern würde, bedrängte sie wie die
ersten Anzeichen eines Unwetters nach einer langen Zeit des Sonnenscheins. Die Erinnerungen wogen plötzlich so schwer wie
Gewitterluft, kurz bevor die ersten Blitze über den Himmel zuckten, und waren doch so leicht, dass der Wind sie davontragen
konnte, wenn sie nicht achtgab. Aber da waren auch die Sonne, die hinter den Wolken stand und sie irgendwann durchdringen
würde, und die Luft, die klar sein würde nach der düsteren Angst. Die Zukunft mit all ihren Hoffnungen und Ungewissheiten
würde am Himmel stehen neben Freyr, dem Sonnengott, der Hilfe in allen Nöten versprach.
Allerdings litt Inaja unter dem heranziehenden Sturm und konnte an die Sonne und die reine Luft nicht glauben. Vor wenigen
Tagen noch war es ganz anders gewesen. Da hatte sie an den Sturm nicht denken wollen, nicht an das Gewitter, an Blitz und
Donner, der ihr Geschick und das ihrer Herrin besiegeln konnte, wenn etwas schieflief. Nur an die Sonne hatte sie denken wollen
und an den Sonnengott, der ihnen gewogen sein musste. Sie hatte doch alles so wunderbar eingefädelt. Inaja gab sich einen
Ruck. Jetzt nur nicht verzagen! Sie war ihrem Ziel so nahe wie nie zuvor!
Als sie begriff, dass sie handeln musste, hatte sie nicht lange gezögert. Das Risiko war nicht groß. Wenn ihr Plan nicht durchzuführen
war, musste sie eben auf die Gnade ihrer Herrin vertrauen. Sie war sicher, dass sie nichts zu befürchten hatte. |112| Thusnelda würde sie schützen. Wie sie sich der Hilfe ihrer Herrin erkenntlich zeigen wollte, wusste sie noch nicht, Inajas
lebenslange Zuneigung und Ergebenheit waren Thusnelda ja sowieso gewiss. Alles Weitere wollte sie sich überlegen, wenn ihr
Vorhaben tatsächlich scheitern sollte.
Aber wie es sich bald zeigte, hatte sie gut geplant, die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte Thusneldas, Arminius’ und Hermuts
genau erkannt und ihre Reaktionen perfekt vorausgesehen.
Hermuts Glück lag derart bloß und ungeschützt vor ihr, dass sie nur nach ihm greifen und es nach ihrem Willen formen musste.
Gleich am nächsten Tag war er langsam an der Eresburg vorbeigeritten, dann einmal um die Burg herum und hatte schließlich
sein Pferd unterhalb der Burgmauer grasen lassen. Als Inaja vors Burgtor trat und so tat, als wäre sie ausgeschickt worden,
um vom nächsten Bauern ein frischgeschlachtetes Huhn zu holen, war er vom Pferd gesprungen und auf sie zugelaufen.
Strahlend hatte er vor ihr gestanden und sich an ihrer überraschten Miene geweidet. In seiner Naivität sah er nicht, dass
ihr Erstaunen gespielt war und ihre Verlegenheit, ihre mädchenhafte Scheu und ihr Zögern auch. Als es ihm gelungen war, sie
in das Wäldchen zu locken, das die Eresburg im Halbkreis umgab, war er vor lauter Glück bereits nicht mehr imstande, sich
darüber zu wundern, dass sie so willig war. Er flüsterte ihr zu, alles geschähe aus Liebe, und er würde ganz sanft, ganz vorsichtig
sein, um ihr nicht wehzutun. Inaja hatte jedes Mal nur genickt, die Augen geschlossen und dafür gesorgt, dass er so wenig
wie möglich von ihrem Körper sah. Fest hielt sie ihr wollenes Tuch vor die Brust gedrückt und duldete nicht, dass er ihre
Brustwarzen berührte.
»Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt«, beteuerte Hermut, während er sich seiner Kleidung entledigte und sich zögernd
unter ihren Rock tastete. »Vom ersten Augenblick an.« Ein ums andere Mal wiederholte er diesen Satz, als müsste er sich damit
Mut machen, der tollkühne Krieger, der anscheinend |113| vor der Liebe mehr Angst hatte als vor der Wut seiner Feinde. Als er sich über sie
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