Die Frau des Germanen
Menschen zuvor. Nur heimlich waren sie sich zwar begegnet, aber vielleicht gerade deswegen umso intensiver. Immer nur kurz
hatten sie sich gesehen, trotzdem war eine Nähe entstanden, die Thusnelda sich vorher nicht hatte vorstellen können. Nun würde
sie Arminius’ Stimme unter Tausenden erkennen, auch seinen Geruch, die Wärme seiner Haut, sein Lächeln, seinen Blick, die
Macht seiner zärtlichen Hände. Und sie wusste nun sogar, wie seine Lippen schmeckten, wie sie sich anfühlten, weich, heiß
und feucht, wie seine Zunge ihren Mund erobern, wie seine Hände zupacken und seine Fingerspitzen Lust bereiten konnten. Das
alles wusste sie, und seit ihrer letzten Begegnung kannte sie auch seine geheimsten Gedanken und hatte sogar erfahren, wie
schwach und hilflos er einmal gewesen war.
»Es war schrecklich, als ich mich von meiner Mutter trennen musste«, hatte Arminius ihr anvertraut. »Ein kleiner Junge war
ich und Flavus sogar noch jünger als ich. Aber unser Vater erklärte uns, wir müssten stolz darauf sein, nach Rom zu gehen,
um dort zu starken Männern gemacht zu werden.« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich konnte nicht stolz darauf sein. Flavus
und ich haben geweint, auch meine Mutter weinte herzzerreißend. Während der Reise nach Rom konnte ich nie ihr Schluchzen vergessen.«
Thusnelda war voller Mitleid, trotzdem versuchte sie, eine Lanze für Fürst Segimer zu brechen. »Sicherlich hat Euer Vater
nur Euer Bestes im Sinn gehabt. Er wollte Euch gut vorbereitet sehen für Eure Aufgabe als Fürst der Cherusker.«
Aber Arminius schüttelte den Kopf. »Nein, nicht zur Erziehung |127| wurden wir nach Rom gegeben, sondern als Geiseln. Das habe ich erst später begriffen, aber genau so war es. Auch die Söhne
anderer Stammesfürsten wurden als Geiseln nach Rom gebracht. Damit hatte der römische Kaiser ein Druckmittel in der Hand,
das germanische Aufstände verhinderte.«
Thusnelda sah ihn entsetzt an. »Ihr seid doch gut behandelt worden?«
Arminius winkte ab. »Natürlich wurden wir unserem Rang entsprechend ausgebildet. Viele sind als Erwachsene sogar gern in Rom
geblieben und wollten von ihrer Heimat und ihren Familien später nichts mehr wissen. Beides war ihnen entfremdet worden. Nicht
wenige dienen noch heute in den römischen Legionen als Offiziere.«
»Aber Ihr werdet es nicht mehr tun?«
Arminius schüttelte den Kopf. »Flavus jedoch wird nach Rom zurückkehren.« Er sah verlegen auf seine Hände. »Ich werde dem
römischen Kaiser auch hier dienen müssen«, sagte er leise, »indem ich Varus zur Seite stehe. Aber ich will auch genießen,
dass ich wieder in der Heimat bei meiner Mutter sein kann. Ich habe sie so lange vermisst.«
Thusnelda betrachtete ihn staunend. Ein Held, ein hochdekorierter Krieger, ein Offizier, dem die römische Ritterwürde verliehen
worden war … er bekannte, dass er sich nach seiner Mutter gesehnt hatte? Dass er nun glücklich war, an ihrer Seite zu leben?
Dies war der Augenblick, in dem aus einem Gefühl, das sie später Verliebtheit nannte, tiefe Liebe wurde. Nichts hatte Thusnelda
bis dahin von der Liebe gewusst, kaum etwas erahnt von dem innigen Gefühl, das sie nun durchströmte, und doch wusste sie in
diesem Augenblick genau, dass sie die Liebe kennengelernt hatte. Sie würde Inaja nicht mehr nach den Geheimnissen der Liebe
fragen müssen. Was sie empfand, war größer und allumfassender als das, was Inaja mit Hermut erlebte, wenn sie mit ihm in den
Wald lief und dort für eine Weile mit ihm allein war. Was dort geschah, war nicht mehr wichtig für Thusnelda, seit sie wusste,
dass sie liebte. Auf das, was Fürst Aristan ihr geben |128| würde, war sie nicht mehr angewiesen. Was immer aus ihrem Leben wurde, sie wusste, was Liebe war. In diesen Wochen war Thusnelda
nichts wichtiger als das. Nur diese Liebe zählte!
8.
E r stand am vierzigsten Eingang. Und wie es aussah, stand er schon lange dort. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, denn er hatte
die Kapuze seines Palliums, eines dunklen, schadhaften Wollumhangs, tief ins Gesicht gezogen.
Severina blieb einige Schritte von ihm entfernt stehen und betrachtete ihn, ohne dass er es merkte. War das wirklich der Mann,
auf den sie seit Tagen wartete?
Sie gab Terentilla einen Stoß. »Frag ihn, warum er sich verspätet hat.«
Terentilla ging gehorsam auf den Mann zu und sprach ihn an. Aber er sah sie nur kurz an, dann wanderte sein Blick über ihren
Kopf
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