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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Wollkostüm mit Samtkragen, dessen Rock knapp über die Knie reichte, dazu passende braune Krokodillederpumps und eine ebensolche Handtasche. Die beiden Accessoires lagen ihr derart am Herzen, dass sie ihnen den Spitznamen »meine Krokos« gegeben hatte, und alle Familienmitgliederwussten, was damit gemeint war. Tatsächlich hatte ich einige Wochen zuvor schmunzelnd mit angehört, wie mein Vater vor dem Überqueren der verschneiten Straße zum Haus der Janaszewskis sagte: »Mutter, ich bitte dich inständig, draußen Stiefel zu tragen und erst drüben deine Krokos anzuziehen.« Für den Besuch bei Dr. Wycomb war auch ich zurechtgemacht: Schottenrock, grüne Strumpfhose, Halbschuhe, Bluse, grüner Wollpullover. Am Kragen trug ich einen runden Anstecker, obwohl Dena mir vor kurzem gesagt hatte, dass dies ein Zeichen von Jungfräulichkeit sei.
    Draußen vor dem Bahnhof herrschte ein allgemeines Durcheinander von Menschen und Fahrzeugen, auf den Bürgersteigen schwärmten Passanten, auf den Straßen rauschte lärmend der Verkehr vorbei, und die Gebäude, die uns umgaben, waren die höchsten, die ich je gesehen hatte. Wir gingen in Richtung eines beigefarbenen Cadillacs, und ich war verblüfft, als plötzlich ein Fahrer mit schwarzer Dienstmütze ausstieg, unser Gepäck nahm und uns die Türen öffnete. Frauenarzt war anscheinend ein lukrativer Beruf. Wir setzten uns auf die Rückbank: Dr. Wycomb hinter den Fahrer, meine Großmutter in die Mitte, ich auf die rechte Seite. »Wir müssten unterwegs kurz halten, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte meine Großmutter zu Dr. Wycomb. »Am Pelham Hotel, Ohio Ecke Wabash Street. Phillip hat sich in den Kopf gesetzt, Alice und ich zusammen würden dir zu viele Umstände machen – wie du siehst, ist Alice ungemein aufsässig und streitlustig –, also hat er uns ein Zimmer reserviert, das wir nun natürlich abbestellen werden.«
    »Du meine Güte«, sagte Dr. Wycomb. »Traut er mir wirklich einen derart verderblichen Einfluss zu?«
    »Den hast du hoffentlich!«, rief meine Großmutter aus, wandte sich ihrer Freundin zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Ich kannte diese Küsse, die leichte Berührung ihrer Lippen, den Duft von Shalimar, der ihrem Näherkommen vorausging. Nachdem sie sich wieder in ihren Sitz zurückgelehnt hatte, tätschelte sie meine Hand und sagte: »Nicht wahr?« Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, also lachte ich.
    Dr. Wycomb beugte sich vor und sagte: »Als dein Vater ein kleiner Junge war, zog er sich jedes Mal komplett aus, bevor er seinen Darm entleerte.«
    »O Gladys, das will sie nicht wissen.«
    »Aber es ist sehr aufschlussreich. Es zeugt von einer gewissen … Starrheit, die Phillip schon immer an den Tag gelegt hat. Er entkleidete sich, und wenn er dann auf dem Klo saß, kniff er die Augen zusammen und presste die Hände an die Ohren. Nur so konnte er sein Geschäft erledigen.«
    Meine Großmutter verzog das Gesicht und wedelte vor ihrer Nase durch die Luft, als ob sie den Gestank aus dem Badezimmer hier im Auto riechen könnte.
    »Sage ich die Wahrheit, Emilie?«, fragte Dr. Wycomb.
    »Die Wahrheit«, antwortete meine Großmuter, »wird überbewertet.«
    »Deine Großmutter war meine Zimmerwirtin«, sagte Dr. Wycomb zu mir. »Hat sie das je erwähnt?«
    »Es war bei weitem nicht so formell, wie sich das bei dir anhört«, erwiderte meine Großmutter.
    »Während des Medizinstudiums war ich arm wie eine Kirchenmaus«, sagte ihre Freundin. »Ich lebte bei einer schrecklichen Familie in einer schrecklichen Dachkammer …«
    »Die Lichorobiecs«, unterbrach sie meine Großmutter. »
Klingt
das nicht schon nach einer schrecklichen Familie? Mrs. Lichorobiec fühlte sich von der gesamten Menschheit betrogen.«
    »Sie erlaubte mir nicht, Lebensmittel in der Dachkammer aufzubewahren, da ihrer Meinung nach dadurch Tiere angelockt werden würden«, erzählte Dr. Wycomb weiter. »Aber auch in der Speisekammer durfte ich nichts lagern, denn dort war laut ihrer Aussage nicht genug Platz. Das war natürlich Unsinn, aber was sollte ich machen? Zum Glück erbarmte sich deine Großmutter meiner, sie wohnte nebenan und bot mir an, die Mahlzeiten bei ihr einzunehmen.«
    »Du wärst sonst verhungert«, sagte meine Großmutter. »Ich war ja schon schlank, aber Gladys war regelrecht zu einem Skelett abgemagert. Nur noch Haut und Knochen.«
    »Nur noch Haut und Knochen«, wiederholte Dr. Wycomb glucksend. Sie beugte sich ein weiteres Mal vor, und als sich unsere

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