Die Frau des Praesidenten - Roman
Memphis.«
In der darauffolgenden Stille vernahm ich das vom See zu uns heraufdringende Geräusch der Wellen, die sanft ans Ufer plätscherten, und hörte einen der kleinen Jungs auf der Wiese sagen: »Er gehört aber
mir
.« Dann hob jemand auf der Veranda zu einem begeisterten Brüllen an, und ich musste feststellen, auch wenn ich es kaum glauben konnte, dass es Mrs. Blackwell war, die vor Lachen brüllte. Kurz darauf brachen alle in schallendes Gelächter und stürmischen Applaus aus. Ich war derart geschockt, dass ich hätte heulen können – es wären Tränen der Verwunderung gewesen, nicht der Traurigkeit oder Kränkung –, aber ich wusste, dass es nun darauf ankam, die Fassung zu bewahren. Mit erhobenem Kopf stand ich da und lächelte aus feuchten Augen. Dabei vermied ich es, Charlie anzusehen, da ich Angst hatte, Schadenfreude in seinem Gesicht zu erkennen. Hatten die Kinder zugehört?, fragte ich mich. Und Miss Ruby?
»Noch mal!«, schrie Mrs. Blackwell. »Encore!«
Und für den Fall, dass irgendjemandem ein Wort entgangen sein sollte, begann Arthur noch einmal von vorn: »Nymphomanische Alice …«
Als er fertig war, sagte Mrs. Blackwell, noch immer vor Freude strahlend: »Denjenigen möchte ich sehen, der jetzt noch behauptet, ich hätte nicht den klügsten Sohn der Christenheit. Arty, du hast dich selbst übertroffen.«
»Es liegt mir fern, einem meiner jüngeren Brüder ein Loblied zu singen«, sagte Ed, »aber das war meisterhaft.« (Und Ed wurde hier für verkrampft gehalten.)
Onkel Trip gab mir einen Stups. »Man bekommt nicht jeden Tag ein eigenes Gedicht geschrieben, was?«
Mehr als ein gekünsteltes Lachen brachte ich als Antwort nicht zustande.
Charlie und ich standen noch immer nebeneinander. Wir sahen uns nicht an, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er grinste, während er zwischen zusammengepressten Zähne hervorstieß: »Du bist entsetzt, oder?«
»Arthur hat das nicht geschrieben.« Auch ich bewegte kaum die Lippen. »Zum ersten Mal habe ich es 1956 von einem Jungen namens Roy Ziemniak gehört.«
Charlie gluckste. »Erbetteln, leihen oder stehlen«, sagte er. »Das ist Arthur.« Dann fügte er hinzu: »Du hältst dich gut. Ich weiß, das hier ist nicht einfach.« Er wandte sich mir zu, und wir sahen einander direkt an. Sein Gesichtsausdruck verriet keine Schadenfreude; er war unsicher. Sein Gesicht erschien mir in diesem Augenblick so vertraut – vielleicht, weil mir all die anderen so wenig vertraut waren, dennoch überraschte mich diese Vertrautheit. Charlies braune Augen mit den sich darum kräuselnden Fältchen, sein struppiges, gewelltes, hellbraunes Haar, seine zartrosa, momentan ganz trockenen Lippen, gegen die ich in den vergangenen sieben Wochen wieder und wieder meine eigenen gepresst hatte – seine Züge trösteten mich. Ich wollte ihn berühren, wollte meine Hand an seine Wange oder um seinen Hals legen, mich zu ihm beugen und ihn küssen, meine Arme um ihn schlingen und von ihm gehalten werden. Ihn nicht zu berühren, fiel mir schwer. Doch ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir endlich wieder allein sein würden – wenn nicht heute Nacht, dann bald und für lange Zeit –, und in diesem Gedanken fand ich weiteren Trost. Denn dann könnten wir über alles sprechen oder im Anschluss an diese Tage mit seiner Familie einfach nur zusammen sein, ohne ein Wort zu sagen. Ich war so froh, es schien mir praktisch wie ein Wunder, dass von allen hier auf der Veranda Anwesenden er derjenige war, mit dem ich ein Paar bildete, er mein Gegenstück war. Nicht Arthur, Gott sei Dank, oder John oder Ed, sondern Charlie – Charlie war derjenige, der zu mir gehörte. Gewiss konnte auch er ein Spaßvogel sein, doch Charlie war einfühlsamer als seine Brüder, verstand mehr von der Welt, von menschlichem Verhalten; Charlies Späße waren weniger ein Reflex als vielmehr eine Entscheidung. (Später fragte ich mich natürlich: Hält man jemanden, von dem man geliebt wird, automatisch für einfühlsam und einen Weltversteher? Vielleicht ist dieser Eindruck nur insofern richtig, als er sich auf einen selbst bezieht; in Gegenwart der geliebten Person besitzt er diese Eigenschaften tatsächlich, und zwar genau aus dem Grund,
weil
er sie liebt. So aufmerksam und gut wie zum eigenen Partner ist er sonst nicht.)
Während Charlie und ich uns inmitten des Geschnatters und Geklimpers der Blackwell’schen Cocktailstunde ansahen, kam mir der Gedanke, dass wir uns vielleicht
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