Die Frau des Praesidenten - Roman
Klasse alle Stufen abdeckte, hatten Ellas sämtliche Cousins und Cousinen besucht, wenn sie nicht noch dort waren, Charlies Bruder John war Vorsitzender des Stiftungsrats, Charlie selbst von der zweiten bis zur achten Klasse in Biddle unterrichtet worden, und Jadey hatte 1967 dort ihren Abschluss gemacht. (Bis 1975 waren Jungs und Mädchen auf den gegenüberliegendenSeiten des Schulgeländes getrennt unterrichtet worden, jetzt waren die beiden Bereiche nach höheren und niedrigeren Klassenstufen aufgeteilt.) Obwohl die öffentlichen Schulen in Maronee finanziell sehr gut ausgestattet waren, nicht zu vergleichen mit denen in der Innenstadt von Milwaukee, war es von vornherein beschlossene Sache, dass Ella die Biddle Academy besuchen würde. Dennoch war ich eine Zeitlang besorgt, ob die Schüler arrogant und die Lehrer zu sehr von sich eingenommen sein würden. Es stellte sich bald heraus, dass ich das helle Holzgebäude für die unteren Klassenstufen mit dem Säulengang davor ebenso lieben sollte wie die vielen Traditionen der Schule – in der dritten Klasse hatten alle Schüler japanische Brieffreunde (die von Ella hieß Kioko Akatsu), und in der vierten bestickten alle, auch die Jungs, ihr eigenes Stofflesezeichen – und ihren leichten Hang zum Hippietum: Zu den Liedern, die Ella aus dem Musikunterricht mit nach Hause brachte, gehörten »If I Had a Hammer«, »One Tin Soldier« und »Imagine«. Ich erkannte, dass die Lehrer viel mehr kreativen Freiraum hatten, wenn sie nicht strikt dem staatlich vorgegebenen Lehrplan folgen mussten, und freute mich besonders auf Ellas fünftes Schuljahr: Bei einer Unterrichtseinheit zu Amerika in der Kolonialzeit würden sich ihre Mitschüler verkleiden, die Jungen mit Dreispitzen, Jabots und Kniebundhosen, und die Mädchen mit Kleidern, zu denen Schürzen und Häubchen gehörten, und sie würden ein Fest mit Maiseintopf, frischgepresstem Apfelsaft und Wildbret ausrichten.
Es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis ich mit meinem Auto das Schultor erreichte, und kaum dass ich da war, stürzte Ella auf mich zu und schwang sich auf den Vordersitz. Ihre lilafarbene Schultasche glitt ihr von der Schulter, und in der Hand hielt sie ein paar lose Blätter, die sie mir entgegenstreckte, noch bevor sie die Tür geschlossen hatte. »Du musst unterschreiben, dass ich auf das Slip ’n Slide darf, obwohl die Party bei uns zu Hause ist«, sagte sie.
»Ich
muss
?«, wiederholte ich.
Sie drehte sich zu mir herum und lächelte – Ella hatte ohne Zweifel das schönste Lächeln von allen Menschen, denen ich jebegegnet war, so lebhaft, verschmitzt und herzlich – und sagte dann: »Ich meinte, würdest du bitte, bitte, meine liebe Mutter? Hast du mir Cracker mitgebracht?« Schon hatte sie die Keksdose zwischen den Sitzen gefunden, öffnete sie und begann zu kauen, wobei sich die Krümel über ihr T-Shirt verteilten.
Mutter
war eine neue Vokabel für Ella, ein ironischer Ausdruck. Nicht dass meine neunjährige Tochter auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, was Ironie bedeutete, aber sie hatte die Angewohnheit, mich Mutter statt Mommy zu nennen, bei ihrer Freundin Christine aufgeschnappt, die abgeklärte und respektlose ältere Schwestern hatte. Ich war davon nicht begeistert, fand es aber immer noch besser, als wenn Ella Charlie und mich mit Vornamen angeredet hätte, wie sie es im Alter von vier Jahren eine Zeitlang getan hatte – vermutlich hatte sie es sich von unserer Art, einander anzusprechen, abgeschaut.
»Kann ich einen anderen Sender reinmachen?«, fragte sie, und bevor ich antworten konnte, beugte sie sich vor und drehte am Senderwahlknopf, um von NPR auf 101,8 FM umzuschalten. Sofort brach Bon Jovis »You Give Love a Bad Name« über uns herein. Ella sang den Refrain laut mit: »Shot through the heart / And you’re to blame …«
Ach, meine Tochter, mein lautes, glückliches, starrköpfiges, unbezähmbares Einzelkind – ich liebte sie. Zu den Dingen, mit denen ich nie gerechnet hatte, bevor ich Mutter wurde, gehörte, wie unterhaltsam das sein konnte. Von meiner Arbeit in der Schulbücherei her hatte ich schon gewusst, dass Kinder witzig sein konnten, sehr sogar, aber es war noch etwas anderes, noch viel schöner, wenn es das eigene Kind war. Mit Ella verbrachte ich jeden Tag etliche Stunden, kannte jeden ihrer Gesichtsausdrücke und all ihre Stimmlagen, jede ihrer Vorlieben, Ängste und Leidenschaften. Zu ihren neuesten Obsessionen gehörten Aufkleber, Himmel-und-Hölle,
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