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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Tennis, weil er gut genug ist, um ein ernstzunehmender Gegner zu sein, aber nicht so gut, dass Charlie nicht in den Genuss käme, jemanden zu besiegen, der halb so alt ist wie er selbst.
    »Ella fährt ja morgen schon wieder«, sage ich, »es ist also nurein kurzer Besuch. Ich wünsche dir einen schönen Tag, und sei bitte vorsichtig, ja?« Das sage ich jeden Morgen. Man könnte denken – ich hätte es jedenfalls gedacht –, dass man als Präsident und als First Lady ein völlig anderes Vokabular benutzen müsste, Worte, die der ständig drohenden Gefahr nationaler und internationaler Katastrophen oder dem Gewicht einer ganzen Nation angemessen wären. Und es gibt tatsächlich einen eigenen Jargon im Weißen Haus – FLOTUS, Pool Spray, »der Football« –, aber es hat sich herausgestellt, dass wir die meiste Zeit mit den Worten, die wir immer benutzt haben, gut zurechtkommen.
    »Ich liebe dich, Lindy«, sagt Charlie. Es ist zwanzig nach sechs, und er wird jetzt sein Frühstück im Family Dining Room einnehmen, wo ihn Hank und Debbie Bell, eine seiner Beraterinnen, bereits erwarten. Sie treffen sich täglich und nennen sich selbst »die Haferflockenfraktion«. Von dort aus wird Charlie anschließend ins Oval Office hinübergehen, um seine Besprechungen abzuhalten, und sich dann im
Marine One
auf den Weg zur Andrews Air Force Base machen, wo ihn das Flugzeug nach Columbus erwartet. (Er legt, seit er Präsident geworden ist, besonderen Wert auf Pünktlichkeit.)
    In diesem allmorgendlichen Moment des Abschieds kommt mir Charlie immer wie ein Schauspieler vor, der die Bühne betritt, wie ein Versicherungsvertreter oder vielleicht wie der Besitzer eines Haushaltswarenladens, der gerade in seinem Stadttheater die Hauptrolle in der Inszenierung
The Music Man
übernommen hat. Oh, wie ich mir wünschte, ihn beschützen zu können! Wie unwirklich unser Leben ist, so sehr wir uns auch daran gewöhnt haben, wie zutiefst befremdlich. »Ich liebe dich auch«, sage ich.
     
    Dies ist der Teil der Geschichte, den jeder kennt: dass Charlie im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahl mit einem geringeren Vorsprung gewonnen hat als jeder andere Kandidat in der Geschichte der Vereinigten Staaten, dass sein Kontrahent mehr Wählerstimmen bekam, während Charlie mehr Wahlmännerstimmen auf sich vereinte; dass die Entscheidung letztlich vomSupreme Court getroffen wurde, der mit fünf zu vier für Charlie stimmte; dass er in seiner Antrittsrede das Versprechen gab, in seiner Regierungsarbeit die Ansichten beider Parteien zu berücksichtigen – ein Versprechen, von dem ich glaube, dass er es auch einhalten wollte; dass nur acht Monate danach Terroristen in New York und Washington Anschläge verübten, denen fast 3000 Amerikaner zum Opfer fielen; dass der Kongress im Oktober 2001 und dann noch einmal im März 2003 den Einsatz militärischer Mittel gegen Länder billigte, die Terroristenführern Unterschlupf gewähren oder Massenvernichtungswaffen besitzen; dass sowohl Charlies Berater als auch er selbst dem amerikanischen Volk erklärten, der Krieg werde schnell vorüber sein, dass sie schon sechs Monate nach dem Einmarsch im März 2003 davon ausgingen, die größeren Kampfhandlungen seien abgeschlossen, wie es Charlie in seiner berühmten Ansprache auf einem Flugzeugträger der Navy verkündete, und dass dieser Krieg heute, vier Jahre später, blutiger und chaotischer ist als je zuvor. Mehr als 3000 amerikanische Truppenangehörige sind gefallen, und fast 25   000 wurden verletzt. Was die Opfer in der Zivilbevölkerung des gegnerischen Landes angeht, gibt es Schätzungen, die von 70   000 Toten ausgehen, während andere auf eine zehnmal so hohe Zahl kommen. Jeden Tag aufs Neue hört man von Autobomben und Selbstmordattentätern, von Heckenschützen, die Polizisten töten, Mörsergranaten, die Wohnhäuser und Schulen treffen, Scharfschützen am Eingang von Moscheen und Enthauptungen an Kontrollpunkten. In der letzten Zeit sprechen Charlie und seine Anhänger von Freiheit, von der Umstrukturierung einer Region und dem ideologischen Wandel oder davon, das zu Ende zu bringen, was einmal begonnen wurde, statt sich aus dem Staub zu machen. Seine Kritiker dagegen sprechen vom Morast des Bürgerkriegs, und einige seiner früheren Anhänger zählen sich inzwischen ebenfalls zu seinen Kritikern.
    Als wir am 8. November 2000 um vier Uhr morgens schlafen gingen, glaubte ich, Charlie hätte die Wahl nicht gewonnen, und ich schwankte zwischen Mitleid

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