Die Frau des Praesidenten - Roman
Lebensstil und den vielen Erwartungen zusammenhängt, denen er sich stellen muss. Ich bin mir fast sicher, dass er klassische Musik vor allem für all das schätzt, was sie
nicht
enthält, nämlich Worte, Forderungen oder Kritik. Sie besteht nur aus Melodie und Stimmung, und solange diese Stimmung nicht zu düster ist, findet er sie beruhigend.
Als Edgar Franklin sein Zelt zum ersten Mal in The Ellipse aufschlug, versteckte die
Times
die Meldung darüber weit hinten, und die ersten Artikel waren nicht länger als ein Sechstel einer Spalte. Der heutige Beitrag auf der Titelseite, dem gestern schon zwei Meinungsartikel vorangegangen sind, ist bisher der ausführlichste: Er hat nicht vor zu gehen, und inzwischen haben sich ihm Hunderte Unterstützer angeschlossen, die über die ganze Stadt verteilt bei Freunden oder bei Fremdenübernachten, in Reihenhäusern, Wohnungen, Hotels oder Motels oder in ihren eigenen Zelten auf Campingplätzen, teilweise sogar in Millersville, Maryland oder im Lake Fairfax Park in Virginia, um jeden Morgen mit ihm zusammen in Capitol Hill Stellung zu beziehen. Colonel Franklin hat Dutzende Blumensträuße bekommen, Hunderte Kilo Lebensmittel, Tausende Dollar an Spendengeldern, und ein Publizist aus Manhattan hat seine Stelle gekündigt, um sich ihm anzuschließen und kostenlos Bericht zu erstatten. Als Reaktion darauf zitiert die
Times
Margaret Carpeni, eine Sprecherin des Weißen Hauses (Maggie ist einunddreißig Jahre alt, eine sportliche junge Frau, die schon zweimal einen Marathon gelaufen ist und sich gerade von ihrem Freund getrennt hat, einem Assistenzarzt, ohne dass irgendjemand begriffen hätte, warum), die am Sonntag verlauten ließ: »Der Präsident betet weiterhin für unsere gefallenen Soldaten und für ihre Hinterbliebenen. Er würdigt das Opfer, das größte aller Opfer, das sie gebracht haben, um in den Vereinigten Staaten und der ganzen Welt die Freiheit und die Selbstbestimmung zu verteidigen.«
Edgar Franklin ist ein hagerer, sechsundfünfzigjähriger Afroamerikaner. Die vergangenen fünf Tage über hat er nicht seine Uniform getragen – das hätte mich eher dazu gebracht, mich auf Charlies Seite zu stellen, weil es mir theatralisch vorgekommen wäre –, sondern Khakihosen und blaue oder weiße kurzärmelige Hemden, unter denen sich das Unterhemd abzeichnete. Dafür, dass er seine Nächte im Zelt verbringt, sieht er erstaunlich adrett aus, aber ich nehme an, dass er morgens in dem Haus des Pärchens duscht, in dessen Vorgarten er zeltet. Nach seiner ersten Nacht in The Ellipse war er von dort vertrieben worden. Er hätte auch festgenommen werden können, kam aber mit einer Geldstrafe davon (die er, wie er den Reportern versicherte, auch zu zahlen bereit ist), und daraufhin meldete sich ein sympathisierendes Paar und bot ihm an, sein Zelt auf ihrem Rasen in Capitol Hill aufzuschlagen. Ob Colonel Franklin damit immer noch gegen das Campingverbot verstößt, ist eine Frage, die zu verfolgen der mehrheitlich liberale Bürgerrat offenbar nicht gewillt ist.
Was Franklin fordert, ist Folgendes: Er möchte sich mit meinem Mann treffen, um ihm seine Ansichten darüber mitzuteilen, warum dieser Krieg sinnlos sei und die Vereinigten Staaten ihre Truppen abziehen sollten. Im Frühling 2005 fiel sein einziges Kind, Nathaniel »Nate« Franklin, in einer der nördlichen Provinzen einem am Straßenrand platzierten Sprengsatz zum Opfer. Edgar war zu diesem Zeitpunkt bereits Witwer, nachdem seine Frau, Wanda, 1996 an Darmkrebs gestorben war. Er selbst war mit neunzehn Jahren eingezogen worden, hatte in Vietnam gedient und war dreißig Jahre lang bei der Army geblieben, die ihn im Laufe der Zeit in sechs verschiedene Einsatzgebiete verschickt und zum Officer befördert hatte. In den Zeitungs- und Fernsehinterviews, die mit jedem Tag zahlreicher werden, äußert er sich nie abfällig über Charlie. Er spricht auch sonst nicht viel, sondern wägt seine Worte. Er sagt: »Ich hatte das Gefühl, nicht länger guten Gewissens schweigen zu können.« Natürlich ist er von mehreren ehemaligen Militärkollegen scharf kritisiert worden.
Seine Trauer, seine hagere, penibel gekleidete Erscheinung und seine wortkargen Kommentare gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich habe einen meiner Mitarbeiter gebeten, herauszufinden, ob Colonel Franklin ebenso wie sein Sohn ein Einzelkind ist, und war sehr erleichtert zu hören, dass das nicht so ist. Colonel Franklin ist in Valdosta, Georgia, als zweites von fünf
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