Die Frau des Praesidenten - Roman
Geschwistern aufgewachsen, als einziger Junge. Eine seiner Schwestern hat auch einen Sohn bei der Army – er dient in einer Spezialeinheit in Übersee – und hat sich am vergangenen Donnerstag in den
Dallas Morning News
von den Aktivitäten ihres Bruders distanziert, dann aber jeden weiteren Kommentar verweigert. In dem heutigen Artikel in der
Times
steht, dass seine jüngste Schwester gestern nach Washington gekommen ist, um sich Colonel Franklin anzuschließen.
Als die Geschichte am Mittwoch publik wurde, sagte Charlie zu mir: »Man darf sich nicht von der Gegenseite die Gesprächsbedingungen diktieren lassen.« Und als ich am selben Nachmittag im Flur vor dem Kartenraum Hank Ucker über den Weg lief – Hank ist jetzt Charlies Stabschef –, sagte er:»Der Präsident hat mir gesagt, dass dieser Franklin dich ins Grübeln gebracht hat, aber glaub mir, Alice, es würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, wenn wir jetzt nachgeben würden. Man darf sich nicht von der Gegenseite die Gesprächsbedingungen diktieren lassen.« Ich musste keinen Gedanken daran verschwenden, wer von den beiden diesen Satz von wem übernommen hatte, dafür kennen wir einander alle schon viel zu lange.
Charlie kommt mit nacktem Oberkörper aus dem Badezimmer, mit einem Handtuch um die Hüften. Auch wenn sein Präsidentenamt ihn älter gemacht hat – sein Haar ist grauer geworden und sein Gesicht faltiger –, ist er doch immer noch ausgesprochen sportlich und gutaussehend. Er kommt zu mir herüber und gibt mir einen Kuss auf die Nase. »Was habe ich heute Schlimmes mit der Welt angestellt?«
»Eine Inszenierung der
Glasmenagerie
am Broadway hat sehr gute Kritiken bekommen«, antworte ich.
»Was schreiben sie über Ingrid?«
In möglichst neutralem Tonfall sage ich: »Man versucht vor allem, ihren Standpunkt in der Abtreibungsdebatte abzuschätzen.« Ingrid Sanchez, Charlies Kandidatin für den Supreme Court, war US-Attorney in Michigan, bevor sie Richterin am sechsten United States Court of Appeals wurde. Sie ist praktizierende Katholikin und Laienpriesterin in ihrer heimischen Kirche, und auch wenn sie noch keine offizielle Stellungnahme zu dem Thema abgegeben hat, gehen die meisten davon aus, dass sie in der Auseinandersetzung zwischen den »pro choice« und den »pro life«-Anhängern auf der Seite der Letzteren steht. Sie scheint zudem eine lupenreine Vergangenheit zu haben, und dass sie eine Frau ist, macht es für feministische Gruppierungen schwieriger, ihre Nominierung zu kritisieren, was allerdings nicht heißt, dass sie sich ganz davon abhalten ließen. Charlies vorheriger Kandidat für den Supreme Court, der neue Vorsitzende Richter, der im September 2006 vom Senat bestätigt wurde, ist ebenfalls konservativ, aber seine Position in der Abtreibungsdebatte ist bis heute uneindeutig geblieben. Wenn Ingrid Sanchez ins Amt eingesetzt wird, bestehtdie Möglichkeit, dass das Gericht die Grundsatzentscheidung
Roe vs. Wade
kippt. Das beunruhigt mich, aber ich habe keinen Einfluss darauf, und es ist nicht so, dass Charlie nicht wüsste, wie ich dazu stehe; das ganze Land weiß es. Kurz vor Beginn von Charlies erster Amtszeit fragte mich der Moderator einer Nachrichtensendung, ob ich die Legalisierung von Abtreibungen befürworte, und ich antwortete mit »Ja«. Als mich derselbe Mann 2004 fragte, ob ich inzwischen meine Meinung geändert hätte, sagte ich: »Nein.« Bei keinem dieser Anlässe ging ich näher auf das Thema ein, aber ich hatte mich beide Male im Vorhinein bereit erklärt, die Frage zu beantworten.
»Das ist wieder typisch für die
Times
«, sagt Charlie und bläht verärgert die Nasenflügel. »Ingrid hat über dreißig Jahre Berufserfahrung, und die müssen sie auf ein einziges Thema reduzieren.«
»Ich fürchte, das war nicht anders zu erwarten, Schatz. Die Republikaner sind in dem Punkt genauso neugierig wie die Demokraten.« Obwohl es keine Zeitung gibt, die Charlie regelmäßig liest – er verlässt sich stattdessen auf die Zusammenfassungen, die ihm seine Mitarbeiter liefern –, verachtet er insbesondere die
New York Times
zutiefst. Das ist beinahe ironisch, wenn man bedenkt, dass Arthur und er in den achtziger Jahren, wenn wir den Sommer in Halcyon verbrachten, anderthalb Stunden Autofahrt nach Green Bay auf sich nahmen, um die Sonntagsausgabe dieser Zeitung zu besorgen. Sie riefen sogar vorher im Laden an, um sich ein Exemplar zurücklegen zu lassen.
Ich schiebe die Decke beiseite, stehe auf und
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