Die Frau des Praesidenten - Roman
weniger wiege als je zuvor seit meinem dreißigsten Geburtstag, ist eskein Mythos, dass man vor der Kamera immer zehn Kilo mehr wiegt; deshalb bin ich für jede Hilfe dankbar.
»Wahrscheinlich schon«, sage ich. In dem Moment taucht Hank vor meinem Büro auf; ich sehe durch die offene Tür, wie er sich mit Jessica Sutton, meiner Stabschefin, unterhält. Wie wird Ella reagieren, wenn sie erfährt,
sobald
sie erfährt, dass ich abgetrieben habe? Einerseits halte ich sie für einen mitfühlenden Menschen, und sie ist schließlich, wie man annehmen darf, selbst sexuell aktiv. Andererseits zählt sie sich wie Charlie zu den wiedergeborenen Christen, und als Teenager hatte sie einen Aufkleber an dem Spiegel ihres Schminktischchens, auf dem stand: Dein Kind will leben. Sie hatte ihn von dem Leiter ihrer Jugendgruppe bekommen. Als ich ihn bemerkte, sagte ich: »Ich glaube, keine Frau wünscht sich, abzutreiben, Schatz, aber einige finden es vielleicht immer noch besser, als ein Kind auf die Welt zu bringen, um das sie sich nicht kümmern können.« Ella sah mich entsetzt an und antwortete: »Dafür gibt es doch Adoptionen!« Dazu, dass ich in den letzten Jahren zweimal im Fernsehen meinen Standpunkt in der Abtreibungsdebatte öffentlich gemacht habe, hat sich Ella nicht geäußert, wobei ich nicht glaube, dass sie es nicht mitbekommen hat.
Jessica klopft behutsam an meine offene Tür, und als sich unsere Blicke treffen, sagt sie: »Hank hat Neuigkeiten.« Sie geht einen Schritt auf mich zu und senkt ihre Stimme zu einem Flüstern: »Geht es dir gut?« Ich habe Jessica vom Auto aus angerufen, um ihr zu sagen, was passiert ist, und sie gebeten, es noch niemandem sonst zu erzählen. Mein Personal ist durchweg außergewöhnlich kompetent, aber Jessica ist diejenige, der ich am meisten vertraue – da ich sie schon ihr Leben lang kenne, ist das vielleicht gar nicht so verwunderlich.
»Ich muss jetzt Schluss machen, Liebling«, sage ich ins Telefon. »Rufst du mich an, wenn du am Flughafen bist?« Zu Jessica sage ich: »Hol ihn rein, aber bleib bitte auch hier.«
Als die beiden zusammen wieder hereinkommen, schließt Hank die Tür hinter sich, was bedeuten muss, dass meine Leibwächter draußen warten. »Bis jetzt führt die Spur nicht zu deinerFreundin Dena«, sagt er. »Erinnerst du dich an eine Ärztin namens Gladys Wycomb?«
Ich starre ihn entgeistert an. Gladys Wycomb? Dr. Gladys Wycomb, die Geliebte meiner Großmutter? »Aber ist sie denn nicht …« Ich versuche, meine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. »Sie muss doch hundert Jahre alt sein.«
»Einhundertundvier. Sie lebt noch immer in ihrer eigenen Wohnung, in Chicago, und hat eine Pflegerin engagiert, die Norene Davis heißt.« Hank verdreht theatralisch die Augen. »Sie haben sich nicht gerade Mühe gegeben, ihre Spuren zu verwischen. Man muss wohl eher sagen, dass sie für ein bisschen Aufmerksamkeit ganz dankbar sind. Ich habe bis eben mit Gladys telefoniert, und ich will nicht arrogant klingen, aber ich glaube, einen Anruf vom Leibhaftigen zu bekommen war wohl das Aufregendste, was der alten Schachtel je passiert ist.«
»Du hast persönlich mit ihr gesprochen?«
Hank nickt. »Sie ist ganz schön resolut für eine Hundertjährige, das muss man ihr schon lassen. Sie sagt, dass du den Eingriff unter dem Namen Alice Warren hast durchführen lassen.«
»Verstößt sie damit nicht gegen die Schweigepflicht oder gegen den Hippokratischen Eid?«
»Komisch, dass du das fragst.« Hanks Tonfall verrät mir, dass ich das, was jetzt folgt, wahrscheinlich weniger komisch finden werde als er. »Es ist nämlich die Abtreibung, die gegen den Eid verstößt. Klar, die Schweigepflicht enthält er auch, aber weißt du was? Wenn du hundertundvier Jahre alt bist, lässt du dich durch nichts davon abhalten, genau das zu tun, was dir passt.«
Ich muss an Gladys Wycombs weiße Katzenaugen-Brille denken, an ihre stämmige Figur, ihren Chauffeur, ihre teuer eingerichtete Wohnung und den mit Goldbrokat tapezierten Flur, jenen Flur, in dem ich mich vor über vier Jahrzehnten in die Vase übergeben habe. Zögernd sage ich: »Und sie möchte, dass ich in aller Öffentlichkeit Ingrid Sanchez schlecht mache?«
»Ja, genau, keine große Sache, und wenn du dann schon dabei bist, könntest du die Amerikaner auch noch daran erinnern,wie wichtig dir das Recht auf weibliche Selbstbestimmung ist.«
»Weiß Dr. Wycomb, dass ich mich schon öffentlich zur Pro-Choice-Bewegung
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