Die Frau des Praesidenten - Roman
Glück unausweichlich insein Gegenteil umschlagen muss, meine ich nicht, ich hätte das Glück weniger verdient als irgendjemand sonst – vielmehr denke ich, dass niemand in unserer ungerechten Welt die Privilegien verdient, die mir zugefallen sind. Seit Charlie zum Gouverneur gewählt wurde, verwundert es mich nicht mehr, dass so viele berühmte Menschen psychisch instabil sind. Wenn sie immer prominenter werden und immer mehr Menschen sie verehren und sich nach ihnen richten, müssen sie sich irgendwann zwischen zwei Sichtweisen entscheiden: Entweder glauben sie, sie haben diese Privilegien verdient, und werden darüber unvernünftig und unerträglich, oder sie glauben nicht daran, sondern werden von Zweifeln zerfressen und fühlen sich als Betrüger. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mich so darum bemühe, ein »normales« Leben zu führen – warum ich mein Bett immer noch selbst mache, warum ich, wenn ich ohne Charlie in Wisconsin bin, bei Jadey und Arthur übernachte, statt mich in einem Hotel einzumieten, warum ich die Zeitungen selbst lese, statt mir ihren Inhalt zusammenfassen zu lassen, und warum ich selbst, wenn auch von Leibwächtern begleitet, bei Hallmark einkaufen gehe, um dort Geburtstags- und Glückwunschkarten auszusuchen (nicht die, auf denen wir zu sehen sind) – denn wie kann man es einer Mitarbeiterin überlassen, zu entscheiden, was der eigenen Freundin oder dem Schwager gefallen wird? Wenn es mir gelingt, ein normaler Mensch zu bleiben, kann ich diese Normalität vielleicht auch Charlie vermitteln. Ich sehe ein, dass meine Bemühungen unzureichend sind, aber sie sind besser als nichts.
Hier, in Dr. Wycombs Wohnzimmer, sage ich: »Es sieht nicht so aus, als könnten wir uns einander annähern, oder?«
»All die vielen Frauen, die gezwungen sein werden, in Hinterzimmern abtreiben zu lassen – kannst du damit wirklich leben?« Sie zittert immer noch.
»Dr. Wycomb, ich weiß, wie leidenschaftlich Sie …«
»Du hast die Macht, den Lauf der Geschichte zu verändern, und das interessiert dich nicht mal. Ist das Recht auf weibliche Selbstbestimmung vielleicht nicht so dein Fall? Dann denkdoch mal über das Heiratsrecht für Homosexuelle nach. Ich weiß mindestens einen Grund, warum dir das Thema am Herzen liegen sollte. Und was ist mit der Umwelt, mit den Bürgerrechten, mit diesem unseligen Krieg? Oder wollt ihr zwei mit euren Scheuklappen zu Hause bleiben und es aussitzen, bis seine Amtszeit um ist und sein Nachfolger alles wieder einrenken darf?«
»Ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen.« Ich stehe auf; mir reicht es. »Ich werde jetzt gehen, Dr. Wycomb. Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Ich kann mir nicht vorstellen, sie zum Abschied zu berühren, und kann mir auch nicht vorstellen, dass sie das wollen würde, also wende ich mich ab und gehe auf die Flurtür zu.
Als ich die Türschwelle erreicht habe, sagt Dr. Wycomb: »Deine Großmutter wäre so enttäuscht von dir.« Was mich am meisten verletzt, ist, dass ihre Stimme in diesem Moment weniger wütend klingt als nachdenklich und traurig.
Ich drehe mich zu ihr herum, und obwohl ich mir sage, dass Gladys Wycomb nicht anders ist als ein Journalist, der einen Artikel über mich schreibt, dass etwas nicht schon dadurch wahr wird, weil sie es behauptet, kann ich nicht umhin zu antworten. »Das denke ich nicht«, sage ich.
»Emilie war kein politischer Mensch, aber sie wusste, was richtig und was falsch ist.«
»
Sie
haben sie enttäuscht«, antworte ich und bin selbst unangenehm berührt von dem feindseligen Ton, den meine Stimme dabei annimmt. »Sie hat mir selbst gesagt, dass Sie sie gezwungen haben, sich zwischen Ihnen und uns zu entscheiden, und dass sie uns gewählt hat. Das ist alles, was ich wissen muss – sie hat sich für uns entschieden.«
»Du und deine Eltern, ihr habt sie ja in eurem muffigen kleinen Haus praktisch eingekerkert. Und so wie ihr immer versucht habt, ihre sexuellen Wünsche zu übertünchen, ist es gar kein Wunder, was aus dir geworden ist.«
Ist es wahr, was sie sagt? Und ist es das, was meine Großmutter dachte und was sie Dr. Wycomb erzählt hat, oder ist es Dr. Wycombs eigene Interpretation?
»Ich habe meine Großmutter geliebt, und sie hat mich geliebt.« Bevor ich in den Eingangsflur trete und von dort durch die Wohnungstür gehe, füge ich noch hinzu: »Das können Sie mir nicht nehmen.«
Eines Samstagabends im Oktober 1994, als immer klarer wurde, dass Charlie die
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